Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen:Wenn Mitschüler zu Tätern werden

Von brutalen Lehrern und gewalttätigen Priestern war im Zuge der Debatte über sexuellen Missbrauch an Schulen immer wieder die Rede. Besonders demütigend ist es für Kinder und Jugendliche jedoch, von Gleichaltrigen missbraucht zu werden. Solche Übergriffe sind besonders in Heimen und Internaten nicht selten.

Felix Berth

Valentin Fürst war in Ettal. Er kann vom brutalen Pater Laurentius erzählen, der ihn durch das Klassenzimmer prügelte, vom sadistischen Pater Godehard, der beim "Ohrendrehen" seine Ohrmuschel zusammendrückte, ihn hochriss und auf den Zehen durch den Speisesaal laufen ließ. "Spitzentanzen" hieß das damals in Ettal. Der Gymnasiast Fürst erlebte Erniedrigungen, Demütigungen und Prügelorgien, er lebte in ständiger Angst vor der nächsten Gewalttat. Die Männer in den Mönchskutten zerstörten seine Kindheit, so sieht er das heute.

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Bindungsforscher wissen schon länger, dass frühkindlicher Missbrauch und emotionale Verwahrlosung zu mehr psychischen Leiden führen.

(Foto: dapd)

Fürst hat nun vom Kloster Ettal eine Entschädigung gefordert; sein "Antrag auf materielle Anerkennung zugefügten Leids" ähnelt den vielen Berichten, die Betroffene im vorigen Jahr über den Alltag in katholischen Internaten geschrieben haben. An einer Stelle jedoch fällt sein Report aus dem Rahmen. Denn Fürst, der in Wirklichkeit anders heißt, war nicht nur Opfer der Lehrer, er war auch Opfer der Schüler.

Weil der schmächtige Junge schlechte Noten hatte, weil er eine Brille trug und sich kaum wehren konnte, demütigten ihn Ältere und Gleichaltrige. Einer lotste ihn in eine Toilette im Dachgeschoss und nötigte ihn zum Oralsex. Andere vergriffen sich im Krankensaal an ihm. Immer wieder griffen ihm Schüler zwischen die Beine und quetschten seine Hoden; dass sein Bettnachbar im dunklen Schlafsaal das fast jeden Abend wieder tat, war für Fürst alltäglich.

Ein Einzelfall? Ein Grenzfall vielleicht, in dem pubertierende Jugendliche zufällig mal einen Kleineren attackiert haben? "Weder noch", sagt Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut. "Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen ist häufiger, als Erwachsene annehmen. Und solche Erlebnisse kann man nicht als harmlose Spiele abtun: Es sind sexuelle Übergriffe."

Kindler und seine Kollegen haben vor wenigen Tagen eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen vorgelegt, die sich mit sexueller Gewalt unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland beschäftigen. Alarmierendes Ergebnis: In knapp dreißig Prozent der Internate gab es in den vergangenen drei Jahren mindestens einen Verdacht auf sexuelle Aggression unter Jugendlichen. Was Valentin Fürst in den siebziger Jahren im Kloster Ettal erlebte, ist demnach noch heute möglich. Zwar werden Lehrer in Internaten seltener zu Tätern als damals, doch dass sich dort auch die Schüler anders verhalten, ist längst nicht sicher.

Die Macht des Schamgefühls

Auffällig ist, dass die öffentliche Debatte des letzten Jahres die sexuelle Gewalt unter Jugendlichen kaum beachtet hat. Ein Grund dafür hat mit der Scham der Opfer zu tun: "Es ist noch viel schwerer, darüber zu reden, dass man von Gleichaltrigen missbraucht wurde", sagt Valentin Fürst. "Man neigt viel mehr dazu, die Schuld bei sich selbst zu suchen." Bis heute hat er nicht mit seiner Mutter über sein Erlebnis in der Ettaler Toilette gesprochen.

Die spärliche Forschung zeigt, dass Jugendliche ihren Eltern nicht automatisch von sexuellen Übergriffen erzählen. So stellen die schwedischen Psychiater Gisela Priebe und Carl Svedin fest: "Je schwerer der Missbrauch ist, umso seltener reden Jungen und Mädchen darüber mit ihren Eltern oder Geschwistern." Zwanzig Prozent der Mädchen und dreißig Prozent der Jungen sprechen demnach mit niemandem. Weitere vierzig Prozent offenbaren sich nur einem Freund. Und falls sie von Gleichaltrigen gequält wurden, sind Kinder und Jugendliche noch schweigsamer: "Diese Opfer schämen sich noch mehr, und noch stärker fürchten sie Vorwürfe und Schuldzuweisungen", so Priebe und Svedin.

Die neue Untersuchung von Heinz Kindler deutet an, dass es ein abgestuftes Risiko gibt, von Gleichaltrigen missbraucht zu werden. Am stärksten gefährdet sind die Heimkinder. Vier von zehn Heimen berichteten von mindestens einem Verdachtsfall innerhalb der letzten drei Jahre, wobei die Jugendlichen dort besonders brutal vorgingen: Auffällig oft versuchten sie, Gleichaltrige zu vergewaltigen. In Schulen und Internaten dagegen sind die Täter häufiger Grapscher. In Heimen, so kann man annehmen, begegnen sich jene Kinder, die selbst viel Gewalt erfahren haben. Aggression - und eben auch sexuelle Aggression - ist hier häufiger als in der Welt draußen.

Weniger riskant für die Jugendlichen sind Internate. Doch es fällt auf, dass Schüler dort nicht so sicher leben wie an einer normalen Schule: Die Gefahr eines Übergriffs durch Gleichaltrige ist fast doppelt so hoch. Sprechen sich diese Zahlen herum, könnte das noch viele Opfer dazu bringen, sich den grausamen Erinnerungen an die Mitschüler zu stellen. Dass jemand wie Valentin Fürst seine Geschichte erzählt, ist vielleicht nur der Anfang.

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