Sexuelle Belästigung:Gegen fremde Hände und dumme Sprüche

Sexuelle Belästigung: Horb am Neckar, 12 000 Menschen feiern ein Wochenende lang eine große Party - auch sie bleibt nicht frei von Übergriffen.

Horb am Neckar, 12 000 Menschen feiern ein Wochenende lang eine große Party - auch sie bleibt nicht frei von Übergriffen.

(Foto: Vanessa Schiwietz)

Auf Festivals wird gefeiert, getanzt und geknutscht. Immer wieder kommt es dabei zu sexuellen Übergriffen. Unterwegs mit einer Frau, die Opfern hilft.

Von Michaela Schwinn

Draußen donnern die Bässe, aber für Sabine Schorpp sind sie nur ein dumpfes Dröhnen. Sie hat einen Knopf im Ohr und lauscht dem Rauschen. Das plötzlich lauter wird, dann die Stimme: "Sabine, bitte kommen." Ein Funkspruch. Sie rennt aus dem Zelt.

Wiese, Schotter, Arme, Beine. Sie drückt sich durch die Menge, immer in Richtung Bar. Da muss irgendwo das Mädchen sein. Was ist passiert? Wurde sie angefasst, beleidigt? Oder noch schlimmer? So viele Gedanken, die Hitze drückt.

Vier Tage "Mini Rock Festival" in Horb am Neckar, einer Kleinstadt bei Stuttgart. Fachwerk, Kopfsteinpflaster, der Neckar. Hier ist Sabine Schorpp im Einsatz, "Team Awareness"; wobei, das mit dem Team stimmt nicht so ganz. 12 000 Festivalgäste sind hier - und eine einzige Frau, die gegen fremde Hände, dumme Sprüche und Beleidigungen kämpft. Denn wo gefeiert und geknutscht wird, kann es zu Übergriffen kommen. Security gibt es auf allen deutschen Festivals, Polizisten und Sanitäter auch. Aber jemand, der in solchen Fällen sofort hilft, ohne Bürokratie, ohne Hemmschwelle, eben ein Bewusstsein für mögliche Übergriffe hat, auf englisch: awareness - das hat weder das riesige Festival "Rock am Ring" noch das "Southside".

Nun hat Sabine Schorpp das Mädchen gefunden, sie sitzt auf einer abgewetzten Couch im Helfer-Zelt. Das Mädchen weint. Ein Junge habe sie angequatscht. Er habe sie festgehalten. Sie wollte nur noch weg. Schorpp hört zu, redet, hört zu und bringt das Mädchen zurück zu ihren Freunden.

Ein paar Tage Urlaub von der Sexismus-Debatte zu Hause

Festivals sind Bastionen der Freiheit, des Eskapismus. Körperkontakt ist hier erlaubt, ja erwünscht. Tausende Menschen auf engstem Raum, da landet schnell mal eine Hand da, wo sie nicht landen sollte. Was eine gezielte Belästigung ist und was eine zufällige Berührung, das lässt sich oft nicht genau sagen. Da sind die Mädchen mit Free-Hugs-Schildern - kostenlose Umarmungen. Und die Jungs, die Schilder mit Zahlen in die Luft halten: 1 steht für hübsch, 6 für hässlich. Schilder sind hier ohnehin sehr beliebt: "Ausziehen!", steht darauf oder "Zeig deine Brüste". Es ist, als machten die Festivalgäste ein paar Tage Urlaub von der Sexismus-Debatte zu Hause.

Ein Freitagabend im August, es ist warm. Auf dem Gelände tobt die Menge, eine Kanone pustet Schaum über die Wiese, Einhörner schütten sich ein Bier nach dem anderen in die Mäuler. Und irgendwo dieses weinende Mädchen.

Wie bringt man Freiheit und Sicherheit zusammen? Diese Frage hat sich für die Festivalbetreiber in diesem Sommer öfter als sonst gestellt. Im Juli tanzten und tranken Tausende auf dem Bråvalla-Festival in Schweden, danach wurde bekannt, dass vier Anzeigen wegen Vergewaltigung und 23 Anzeigen wegen sexueller Belästigung eingegangen waren. 2018 wird das Festival nicht stattfinden, Sicherheit vor Freiheit also. Oder das Glastonbury Festival in England, Ende Juni: Eine Besucherin wollte ihr Ticket zurückgeben, zwei Bekannte, die sie vorher sexuell belästigt hatten, würden auch dort sein. Die Organisatoren versprachen ihr daraufhin einen sicheren Zeltplatz und Zugang zu allen Bereichen.

"Hier soll man ja auch verrückt sein, loslassen"

In Horb am Neckar trinken die Einhörner weiter ihr Bier, hier scheint alles ganz friedlich zu sein. Bisher wurde Schorpp nur ein einziges Mal gerufen; das weinende Mädchen. Aber nur weil sie nicht gerufen wird, heißt das noch lange nicht, dass nichts passiert. Nicht jeder weiß, dass es sie überhaupt gibt, und nicht jeder würde eine fremde Frau zur Hilfe rufen. Also läuft Schorpp über das Gelände, geht auf eine Gruppe zu. Vier Mädchen vor Maultaschen und Plastikbechern. Eine Hand hat Schorpp am Knopf in ihrem Ohr, in der anderen Flyer. "Kennt ihr unsere Aktion: Wo ist Angela?" Ratlose Blicke. "Wenn ihr euch unwohl fühlt, dann fragt an den Bars nach Angela. Die Barkeeper funken mich an, dann komme ich und bring euch weg." Okay, Angela also - die Mädchen stochern in ihrem Essen. Dann redet eine: "Gestern war so ein Kerl auf der Tanzfläche." Ihre Augen werden zu Schlitzen. "Er hat mich angefasst. Ich habe ihn angeschrien, er soll mich in Ruhe lassen." Und er: "Jetzt hab dich nicht so." Dann lief sie weg, so ein Arsch. Jetzt hab dich nicht so.

Schorpp weiß, wovor das Mädchen weggelaufen ist. Wie oft ist es ihr selbst passiert, dass sie auf Festivals Wildfremde umarmten, ihr einen Kuss auf die Backe drückten. Wie oft musste sie schon sagen: Nein, lass das! 21 Jahre ist sie alt, Psychologie-Studentin, sie hat kurze Wuschelhaare und trägt Shorts. "Hier soll man ja auch verrückt sein, loslassen. Das gehört dazu", sagt sie, während sie auf dem Gelände auf und ab läuft, wie ein Tiger auf der Pirsch. Aber manches gehört eben nicht dazu - und ein Nein ist ein Nein.

Dass ein Nein nicht für jeden ein Nein ist hier in Horb am Neckar, dass dieses Mal etwas anders sein wird, das ahnt Schorpp am Freitagabend noch nicht. Wenn am Montagmorgen aber die kaputten Zelte, die zerfetzten Tierkostüme weg geräumt werden, wird die Lokalzeitung schreiben: "Fünf-Sexualstraftaten beim Mini-Rock". Nach dem Festival waren bei der Polizei fünf Anzeigen mit einem sexuellem Hintergrund eingegangen, darunter ein Vergewaltigungsvorwurf. Ein Mädchen habe einen Jungen kennengelernt und mit ihm geknutscht, anfangs wollte sie das auch, wird sie später der Polizei sagen. Doch als sie Nein sagte, soll er weitergemacht haben.

Als sich Schorpp im vergangenen Jahr mit ein paar Bekannten zusammen setzte, die das Festival groß gemacht hatten, da ging es um Prävention. Sie redeten über Regeln, über Grenzen, über sexuelle Belästigung. Es war ja immer ihr Festival - und sie wollten ein Zeichen setzen. Also druckten sie Plakate: "Ist Angela da?", klebten sie an Bars, stellten die Aktion auf Facebook. Bei ihrem Festival war ja noch nie was Schlimmes passiert - keine einzige Anzeige wegen sexueller Belästigung in zwölf Jahren. Bis jetzt, bis 2017.

Erst ging es nur um Prävention. Jetzt geht es um Anzeigen

Nur sieht es gar nicht danach aus. Niemand funkt Schorpp an. Es dämmert, Scheinwerferlicht tanzt über ihre Wangen. Sie schaut nach links, nach rechts. Die Bilanz bisher: ein Einsatz, ein weinendes Mädchen. Die anderen Frauen, sie werden sich nicht bei ihr melden. Trotz der gestiegenen Sensibilität für dieses Thema.

Sexuelle Übergriffe sind seit eineinhalb Jahren allgegenwärtig in Medien und Gesellschaft: Nach der Kölner Silversternacht schlich sich die Angst in Clubs, Bars und U-Bahnen. Nach Bråvalla in Schweden wurden in diesem Sommer auch auf dem "Southside" mehr Security eingesetzt, es gab nun Aktionen für Menschen, die sich wehren wollten, gegen fremde Hände.

"Es ist kein neues Phänomen, dass auf Festivals Schwellen überschritten werden", sagt Johannes Luff, Leiter der kriminologischen Forschungsgruppe Bayern. Genaue Zahlen hat er nicht. Festivals werden nicht eigens als Tatorte gezählt. Was erfasst wird, sind "Festplätze", wozu Festivals gehören. Und die Zahl der sexuellen Straftaten auf Festplätzen sei konstant. Martin Rettenberger von der Kriminologischen Zentralstelle kann auch keine Zunahme feststellen. Aber man müsse von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.

Schorpp versinkt in der Menge, brüllt gegen die Rap-Musik an. Die Aktion hat sich herumgesprochen, die Mädchen, die neben ihr tanzen, wissen Bescheid. Eine gute Sache sei das, ja, schon. Ob sie an der Bar nach Angela fragen würden? Eher nicht, sagt eine. "Das regel ich schon selbst", sagt eine andere. Sabine Schorpp wird noch zwei Tage auf einen Notruf warten. Auf jemanden, der Hilfe braucht. Aber ihr Funkgerät wird stumm bleiben.

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