Der Junge mit der Pudelmütze kennt die Regeln. Würfeln und dann mit dem blauen Stein vorrücken. Drei Felder zurück, wenn er auf das Stacheldrahtsymbol kommt, und ohne Würfeln weiter bis Belgrad, wenn er das Taxi-Aktionsfeld erwischt. Wer zuerst am oberen Spielfeldrand bei dem Schriftzug Subotica ankommt, hat gewonnen. Gleich hinter Subotica liegt das EU-Land Ungarn. Der Junge mit der Pudelmütze verliert, sein Gegenüber in Daunenjacke ist jubelnd an ihm vorbeigezogen. "Noch mal?", fragt einer, die anderen nicken.
In der Kinderecke des Infocenters für Flüchtlinge in Belgrad ist das beliebteste Spiel eine selbstgebastelte Pappkarte von Serbien, die aus der Flucht eine Art Monopoly macht. Die vier Jungs, die gerade spielen, sind zwischen zwölf und 16 Jahren alt. Vor ein paar Monaten haben sie ihre Heimat Afghanistan verlassen. Alleine, ohne Eltern. Ihr Ziel? Deutschland, zur Schule gehen, einen Job finden, Geld nach Hause schicken. Ihr Alltag? Warten. Und manchmal im Infocenter mit Buntstiften für die Sozialpädagogen ihre Reise nachzeichnen.
Täglich dürfen nur fünf bis zehn Flüchtlinge die Grenze nach Ungarn passieren
Die Pappversion der Flucht und die reale Flucht ähneln sich insofern, als es bei beiden in erster Linie Glück braucht, um ans Ziel zu kommen. Doch sie unterscheiden sich in einem zentralen Punkt: Beim Würfeln sind die Regeln klar und verständlich. Bei der realen Flucht ändern sich die Regeln in jedem Land, und nie sind sie für alle gleich. Um das Brettspiel näher ans echte Leben zu rücken, bräuchte es die Aktionskarte "Schleuser", die nur ziehen darf, wer außer Geld nicht viel zu verlieren hat.
Als die sogenannte Balkanroute im März 2016 unter Federführung Österreichs für geschlossen erklärt wurde, hielten sich gut 2000 Flüchtlinge in Serbien auf. Ein knappes Jahr später ist ihre Zahl auf 7500 gestiegen. Manche Hilfsorganisationen vermuten, dass sich eher 10 000 Geflüchtete im Land aufhalten. Die Strecke über die Türkei, Griechenland, Mazedonien oder Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich ist immer noch der wichtigste Fluchtweg aus dem Irak und Afghanistan.
Die meisten aber gelangen inzwischen nicht mehr über Serbien hinaus. Zwischen fünf und zehn Flüchtende lassen die ungarischen Grenzer täglich, von Montag bis Freitag, einreisen. Wer darauf wartet, wartet in Belgrad; stecken geblieben auf dem Weg aus dem armen Teil der Europäischen Union (Griechenland, Bulgarien) in den reichen Teil (Österreich, Deutschland). Immerhin steht hier, in diesem übrig gebliebenen Zipfel Europas, der nicht zur EU gehört, kein Zaun an der Grenze.
Gleich hinter dem Belgrader Hauptbahnhof, in ein paar leer stehenden Eisenbahndepots, wirkt dieses Ausharren so, als hätte es ein Hollywood-Regisseur für einen Endzeitfilm inszeniert. Bei den ersten paar Schritten in der Lagerhalle ist kaum etwas zu erkennen. Ein wenig Licht fällt durch zerbrochene Fenster und färbt den Rauch gelblich, der von kleinen Feuern aufsteigt. Menschen verbrennen Plastiktüten, Autoreifen und was sonst noch die Atemwege verätzt. Entlang der Wände stapeln sich graue Decken. Nur das ständige Husten deutet darauf hin, dass darunter Menschen liegen.
Mehr als tausend Männer hausen hier zwischen Müll und bröckelnden Mauern. Dieser Ort ist so spektakulär elend, dass er seit ein paar Wochen Kamerateams aus der ganzen Welt anzieht. Zwei Flüchtlingshelfer unterhalten sich, sie blicken auf das Feuer, an dem ein paar Männer in alten Ölfässern Schnee schmelzen, um sich zu waschen. "Warst du in Calais, im Dschungel?", fragt die Serbin, die in der Kinderbetreuung arbeitet. "Ja", sagt der Engländer, der gerade ein improvisiertes Klo auf einer Abfallhalde gezimmert hat. "Und wo war's schlimmer?" "Hier, glaube ich."
Um einen qualmenden Holzscheit sitzen fünf Männer. Ob sie nicht in eines der offiziellen Lager der Regierung gehen wollen? "Nein" - einer lacht und winkt ab, morgen will er zur ungarischen Grenze, "zum fünften Mal". Beim letzten Mal haben die Polizeihunde einem Freund ins Bein gebissen. Hat er keine Angst? "Wir sind Afghanen, wir haben Schlimmeres gesehen."
Die serbische Regierung betont, dass die Menschen freiwillig im Schmutz frieren. Wer wolle, bekomme ein Bett und warmes Essen. Das ist halb wahr und halb gelogen.
Fast alle, die hinter dem Belgrader Bahnhof ausharren, sind alleinreisende junge Männer aus Afghanistan und Pakistan, die mit Schleppern unterwegs sind. Ihre Chancen auf Asyl in der EU sind gering, ihre Chancen, an der ungarischen Grenze durchgelassen zu werden, sind noch geringer. Sie wollen sich in Serbien nicht registrieren lassen und vermeiden die staatlichen Hilfsangebote.
Die Sache ist nur: Würden die Männer die Angebote nutzen, wäre das System noch überlasteter, als es ohnehin schon ist. Man sei bereit, 6000 Menschen aufzunehmen, verkündet Serbiens Premier Aleksandar Vučić immer wieder. Doch diese Marke ist längst überschritten. Mehr als 6200 Menschen leben in den offiziellen Lagern. Viele Unterkünfte sind überfüllt. Der Bau neuer Unterkünfte geht nur schleppend voran. Serbiens Politik ist nicht viel anders als die Strategie der Männer hinterm Bahnhof: abwarten und aussitzen.
Auch die Regierungen in Brüssel, Berlin, Paris oder London scheinen hauptsächlich darauf zu hoffen, dass sich all die Afghanen, Syrer und Iraker bitte in Zukunft einfach entscheiden mögen, zu Hause zu bleiben. Unklar ist, was mit denen passieren soll, die schon hier sind. In Serbien kommen inzwischen Familien an, die seit Monaten in den sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln darauf gewartet haben, einen Bescheid für ihr Asylverfahren zu bekommen. Und die nun aufgegeben und sich entschieden haben, Schlepper zu bezahlen. Man kann darüber streiten, ob Obergrenzen und Abschiebungen in tatsächlich oder vermeintlich sichere Herkunftsländer ethisch vertretbare Steuerungsmechanismen für Migration sind. Doch immerhin sind es Steuerungsversuche. So zahlreich die Ideen für die Begrenzung der Zuwanderung sind, so spärlich sind sie, wenn es darum geht, Schutz für diejenigen zu finden, deren Häuser zerbombt wurden. Weiterhin gilt schlicht das Prinzip, dass sein Ziel erreicht, wer zäh, stark und gesund ist. Wer fehlt also auf dieser sogenannten Balkanroute? Die Flüchtenden aus Syrien. Auch weil es kaum noch Wege aus dem Land heraus gibt.
Das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ist wie ein Schaukasten, in dem sich studieren lässt, wie schnell ein Krieg das gewohnte Leben zerstören kann und wie lange es dann dauert, bis eine neue Heimat gefunden ist. Auch Belgrad ist eine Stadt der Geflüchteten, und das nicht erst, seit im Sommer 2015 täglich Tausende kamen.
Gleich hinter der Stadtgrenze liegt die Barackensiedlung Krnjača. Vor gut 25 Jahren zogen hier kroatische Serben ein, die während des Kroatienkriegs aus ihren Dörfern fliehen mussten. Vor ein paar Monaten erst konnten die letzten von ihnen in die subventionierten Wohnungen umziehen, die ihnen der Staat jahrzehntelang versprochen hatte. Als die alten Flüchtlinge auszogen, wurden die Baracken renoviert - für die neuen Flüchtlinge. Vier Erwachsene pro Zimmer, siebzig Menschen pro Baracke. 1200 Menschen insgesamt, 80 Prozent von ihnen sind Familien aus Afghanistan. Zwischen den Baracken haben Kinder auf den vereisten Wegen Rutschbahnen freigeschlittert.
Vor einer der Baracken sitzt Dua. Sie ist 17 Jahre alt und war vor einem Jahr noch im afghanischen Kandahar zu Hause. Dann starb ihr Vater; die Mutter beschloss, mit ihren Kindern zu fliehen, sie fühlte sich nicht mehr sicher. Dua und ihre zwei älteren Geschwister gehören zu den wenigen hier in Krnjača, die fließend Englisch sprechen. "Gebildete Menschen werden nicht abgeschoben, oder?", fragt Dua. In ihrem kleinen Zimmer schlafen sie zu viert in zwei Stockbetten. Zwischen Bett und gegenüberliegender Wand ist gerade genug Platz, um sich mit angezogenen Beinen hinzuhocken. Die Zimmerecke neben dem Fenster haben sie mit selbstgebastelten Papiergirlanden dekoriert. "Wir haben dieses Jahr zum ersten Mal in unserem Leben Silvester gefeiert", sagt Duas Mutter.
Es ist alles in Ordnung hier im Lager, sagt Dua. Strom, warmes Wasser, ein Arzt, drei Mahlzeiten am Tag. "Das Einzige, was nicht in Ordnung ist, ist unsere Zukunft." Seit vier Monaten warten sie in Krnjača. Nur fünf Menschen im ganzen Lager haben in Serbien Asyl beantragt. Ein junger Mann aus Somalia wartet seit bald zwei Jahren darauf, dass in seinem Asylverfahren eine Entscheidung fällt. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) weist ausdauernd darauf hin, dass Serbien kein sicheres Drittland ist und Asylsuchende dort nicht auf einen fairen Prozess hoffen dürfen. Auch der serbische Lagerleiter reagiert irritiert auf die Frage, ob er die Menschen dazu anhält, in Serbien zu bleiben. Das könne doch keiner wollen, sagt er. Duas Familie gehört zu der großen Mehrheit, die das tatsächlich nicht will. Und deshalb steht ihr Name auf der Liste.
Die Liste haben sich die Ungarn ausgedacht. Jeder, der sich in Serbien polizeilich registrieren lässt, wird den Ungarn als potenzieller Kandidat für eine Weiterreise gemeldet. Von diesen Gemeldeten dürfen täglich fünf bis zehn Menschen die Grenze zur EU passieren. Im Mai vergangenen Jahres hatte das UNHCR noch 40 legal eingereiste Flüchtlinge am Tag gezählt, im Oktober waren es 30. Die Zahl der genehmigten Einreisen sinkt, die Zahl der in Serbien Gestrandeten steigt. Europäische Flüchtlingspolitik ist vor allen Dingen eine Frage der Geografie, nicht der Gerechtigkeit. Welches Land liegt wo auf der Fluchtroute? Das entscheidet darüber, wie sehr man die Heimatsuchenden ignorieren kann. Ein Zugang zum Mittelmeer bedeutet maximale Belastung, das wissen Griechenland und Italien. Die serbische Transitposition war unkompliziert, als Transit noch Durchreise bedeutete. Seit aus den Durchreisenden Gestrandete geworden sind, wächst die Sorge, dass Serbien das neue Griechenland werden könnte: ein Slum der Heimatlosen, mitten in Europa.
Auf einem der vereisten Wege von Krnjača geht ein Mann aus dem Irak mit seinem vierjährigen Sohn zu einem frisch eingerichteten Spielzimmer. Auch er setzt seit fünf Monaten alle Hoffnungen in die Liste. "Ich bin Nummer 63!" Er strahlt, als sei die Zahl eine Auszeichnung. Bedeutet 63, dass er bald weiterreisen kann? Er schüttelt den Kopf. Was die Zahl bedeutet, das weiß er leider nicht.