Süddeutsche Zeitung

Sexualisierte Gewalt:Serbiens erster "Me Too"-Skandal

Die Schauspielerin Milena Radulović erzählt, wie sie vom Leiter ihrer Schauspielschule vergewaltigt wurde. Offenbar ist sie kein Einzelfall. Warum haben alle so lange geschwiegen?

Von Florian Hassel, Belgrad

Im November 2020 vertraute sich eine junge serbische Schauspielschülerin der prominenten Kollegin Milena Radulović an. Das Nachwuchstalent lernt das Handwerk an Belgrads berühmtester Schauspielschule, die den schönen Namen "Stvar Srca" trägt, "Herzensangelegenheit". Ihr Chef, der ehemalige Filmregisseur Miroslav Aleksić, erhält jedes Jahr auf wenige Plätze Hunderte Bewerbungen. Der Besuch seiner Theaterschule öffnet die Tür zur Aufnahme auf die weiterführende Universität der Künste und zur Karriere in Film oder Fernsehen.

Was die Schauspielschülerin erzählte, kannte Milena Radulović aus eigener Erfahrung: dass sie von Schuldirektor Aleksić vergewaltigt worden sei.

Radulović, 25, als Film- und Serienschauspielerin sowohl in Serbien als auch in Russland etabliert, kontaktierte nach dem Hilferuf der jungen Kollegin andere Aleksić-Elevinnen. Anfang Januar gingen sie zur Polizei. Radulović schilderte der Boulevardzeitung Blic, wie sie im November 2012 mit 17 Jahren von Aleksić das erste Mal vergewaltigt worden sei - und es dabei nicht geblieben sei. Noch am Tag des Interviews, am 16. Januar, wurde der 68 Jahre alte Aleksić verhaftet. Neben Radulović hatten ihn fünf weitere junge Frauen wegen Vergewaltigung oder sexueller Belästigung angezeigt. Beim ersten Verhör bestritt er alle Vorwürfe. Wenn es zum Prozess kommt, könnte er zu bis zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt werden.

Belgrad erlebt, mehr als drei Jahre nach dem Beginn der weltweiten Empörung, seinen ersten "Me Too"-Skandal. Aleksićs Schauspielschule besteht seit dreieinhalb Jahrzehnten und wurde von etwa 3000 Schülern und Schülerinnen besucht. Bis jetzt hat nie eine junge Frau über Missbrauch gesprochen, und die Frage lautet: warum nicht?

Kontakte mit den Eltern waren verboten

Eltern, die ihre Kinder auf der Schule anmeldeten, traf Aleksić nur einmal: um ihnen nach der Aufnahme die Gebühren mitzuteilen. Dann verbat er sich weitere Kontakte, sie untergrüben seine Arbeit und Autorität. Seiner Schülerschaft präsentierte er sich mitunter in Uniform; sie hätten jedem Kommando zu folgen.

Die 24 Jahre alte Iva Ilinčić, die heute am Belgrader Drama-Theater spielt und die Aleksić ebenfalls anzeigte, schilderte am Dienstag in der Zeitung Blic eine geschlossene Gesellschaft, in der die oft minderjährigen Schülerinnen und Schüler Aleksić als Vaterfigur und die Schule als "erweiterte Familie" wahrnahmen. Nicht einmal der Missbrauch habe dies geändert. Mädchen, die in Aleksićs Büro missbraucht oder vergewaltigt wurden, hätten darüber untereinander nicht gesprochen. "Auch ich habe es niemandem gesagt, nicht meiner Mutter, meinem Vater, nicht meinen Schwestern, weder meinem damaligen, noch meinem heutigen Freund", sagte Ilinčić. Erst der Mut von Milena Radulović habe auch ihr Schweigen gebrochen.

Radulović zufolge reicht der Missbrauch an der Schule 35 Jahre zurück. Der Politologe Rade Veljanovski sagte dem Fernsehsender N1, es sei "einfach unmöglich", dass niemand Indizien wahrgenommen habe. Die Schauspielschule liegt an der begehrten Knez-Mihailova-Straße im Herzen Belgrads. In Serbien könne nur jemand, der "die Unterstützung des Machtzentrums hat", dort seine Schule betreiben, sagte Veljanovski. In den 90er-Jahren stand Aleksić dem Verbrecherführer Željko Ražnatović "Arkan" nahe, in den Jugoslawienkriegen verantwortlich für etliche Kriegsverbrechen. Dies habe Aleksićs Erfolg in der "quasipatriotischen" serbischen Gesellschaft ebenso wenig geschadet wie sein in der patriarchalisch geprägten Kultur nicht hinterfragter Ausbildungsdrill.

Der Skandal zieht Kreise über Serbien hinaus

Die Autorin Jovana Gligorijević nannte Radulovićs Anklage "historisch", sie hoffe, dass sich noch mehr Frauen trauten, nun ebenfalls an die Öffentlichkeit zu gehen. In der Tat: Laut der regierungsnahen Zeitung Večernje novosti sollen seit der Verhaftung 20 weitere Frauen den berühmten Schauspielschuldirektor angezeigt haben. Und der Skandal zieht sogar über Serbien hinaus Kreise. In Bosnien-Herzegowina und Kroatien berichteten seit Radulovićs Interview etliche Frauen über angeblichen Missbrauch an den Schauspielakademien von Sarajevo und Zagreb.

Das Wochenmagazin Nin schätzt, dass allein im sieben Millionen Einwohner zählenden Serbien jedes Jahr etwa 1000 Frauen vergewaltigt werden. Nur wenige Dutzend Vergewaltiger werden verurteilt. Europarats-Experten kritisierten Anfang 2020 zu geringe Strafsätze. Sexuelle Belästigung ist in Serbien erst seit Juni 2017 eine Straftat. Frauen, die ihre Peiniger anzeigen, werden mit Hass- und Verleumdungskampagnen überzogen.

Zum Beispiel eine Frau namens Marija Lukić. Sie zeigte im März 2018 im Städtchen Brus ihren Chef, den damaligen Bürgermeister Milutin Jeličić, wegen sexueller Belästigung an und präsentierte dem Gericht 15 000 SMS, mit denen er sie bedrängt hatte. Doch zum Prozess kamen viele Unterstützer von der Regierungspartei SNS und auch der Kriegsverbrecher Vojislav Šešelj und setzten das Missbrauchsopfer unter Druck. Anfang November 2020 wurde Jeličić schlussendlich rechtskräftig verurteilt, zu drei Monaten Haft.

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