Warum dieser Abend nicht ohne Abstecher in eine Selbstauslöser-Kabine enden soll, will die Studentin Hwang Se-yoon gerne erklären. Allerdings nicht gleich. Mit ihrem Freund Park Jeong-huan, 23, ist die 21-Jährige gerade erst angekommen im Self-Fotostudio Photogray nahe dem U-Bahnhof Hyehwa in Seoul. Die beiden haben sich jeweils ein Paar Tierohren ins Haar gedrückt. Sie wollen erst mal die Fotos machen und dabei vielleicht auch noch mal über die Frage des ausländischen Reporters nachdenken, bei der es ja nicht nur um sie geht, sondern ganz grundsätzlich um die Beliebtheit der Instantfotografie in Südkorea.
Wenige Minuten später sind sie wieder zurück. Hwang Se-yoon hat ihre Antwort ins Smartphone getippt und per Übersetzungs-App ins Englische verwandelt. "Ich glaube, der Zweck ist, aufzunehmen und in Erinnerung zu behalten, was man mit Freunden oder Geliebten gemacht hat", ist auf dem Display zu lesen. "Ich glaube, es ist eine neue Tradition für junge Leute." Sie gehe mit ihrem Freund fast bei jedem Date ins Self-Fotostudio. "Zu ungefähr 80 Prozent."
Selfies helfen bei der persönlichen Verwirklichung
Das Interesse am eigenen Bild ist wahrscheinlich nirgends so groß wie in Südkorea. Es ist eine Begleiterscheinung des digitalen Zeitalters, das im Tigerstaat besonders schnell voranschreitet. Das Smartphone ist hier ja sozusagen ein Lebensmittel aus heimischer Produktion, gefertigt und vernetzt vom National-Konglomerat Samsung. Schnelles mobiles Internet ist selbstverständlich, das Foto-Versenden eine Alltagshandlung. Und Selfies zu schießen, hilft Südkoreanerinnen und Südkoreanern bei der persönlichen Verwirklichung.
Zumindest sieht der Seouler Psychologe Whang Sang-min das so. Für Koreas junge Leute sei es "eine andere Art, das Selbstbild so auszudrücken, wie sie es sich in ihrer Fantasie vorstellen", schreibt er auf SZ-Anfrage über den Instantnachrichtendienst Kakaotalk. "Wenn sie ein klares Gefühl für sich selbst hätten, hätten sie das nicht nötig." Aber Südkoreas Wettbewerbsgesellschaft mit ihren hohen Erwartungen und Vorurteilen fördert nicht gerade ein nachhaltiges Selbstbewusstsein. "Als Generation der Jahrtausendwende in Korea ist ihre wichtigste Sehnsucht im Leben, ein 'Insa' zu sein, also eine Person in einem vorherrschenden Trend und Teil der Mehrheit", erklärt Whang, "durch das Selfie-Machen können sie das Gefühl haben, von anderen anerkannt zu werden."
Der normale Passbild-Automat reicht in Südkorea schon länger nicht mehr. Schon vor drei Jahren berichtete die Zeitung Hankyoreh über eine wachsende Anzahl an Fotostudios, in denen die Kundschaft anspruchsvolle Profilbilder per Selbstauslöser und Kamera hinter dem Spiegel anfertigen kann. Der Vorteil zum professionellen Fotoshooting: Ohne die Ansagen von Fotografen werden die Bilder natürlicher. Photogray und ähnliche Studios, die seit 2020 überall in Südkorea eröffnet haben, sind im Vergleich zu diesen eher kostspieligen Selbstauslöser-Studios die billigere Variante - der Laden für das schnelle Foto nebenbei.
Sie haben ein Foyer mit Schminktisch und Spiegeln. Aus Regalen kann man sich spaßige Mützen, bunte Brillen oder sonstige Accessoires nehmen. Die Kabinen sind mit den Schikanen des modernen Fotoshops ausgestattet. Zum Beispiel kann man bestimmte Rahmen aufrufen, die den Eindruck erwecken, als stünde ein K-Pop-Star oder Nationalfußballer im Bild.
An den Wänden der Studios kleben die Bilderstreifen der Kundschaft in verschiedenen Formaten. Szenen eines lustigen Landes. Freunde, Paare, Singles mit oder ohne Spaßmützen, mit oder ohne Corona-Masken. Sie lächeln. Schneiden Grimassen. Formen mit den Händen Herzen oder Victory-Zeichen. "Koreaner haben Humor", sagt Han Seung-won, der mit seiner Freundin Song Seo-young im Photogray Schwarz-Weiß-Aufnahmen ohne Kopfbedeckung gemacht hat.
Im Studio Oldmoon, das auf der anderen Seite der Straße im Theater-Viertel Daehangno liegt, wollen die 20-jährigen Freundinnen Lee Su-min und Kim Min-ji aus Chungchon ihren Seoul-Besuch verewigen. Sie tragen beide einen Armreif, der den Eindruck erweckt, als habe ihnen jemand einen Schraubenzieher in den Schädel gerammt. Worum es gehe beim Bildermachen hier? In koreanischer Schrift schreiben sie eilig: 행복. "Haengbog. Happy." Dann gehen sie rein in die Kabine. Mit routinierten Handgriffen stellen sie das richtige Programm ein. 7000 Won, 5,10 Euro, für zehn Aufnahmen, von denen man vier auswählen kann. Per QR-Code landen sie auf dem Smartphone, dazu ein Zeitraffer-Video von dem Vorgang, sich fotografieren zu lassen.
Die Segnungen der digitalen Datenverarbeitung haben das Selbstfotografieren zu einem Event gemacht, das sich jeder jederzeit leisten kann. Die Self-Studios wirken dabei wie kleine Kapseln der Ablenkung. Denn es ist nicht immer lustig, jung zu sein in Südkorea. Die konservative Gesellschaft hier verlangt viel vom Nachwuchs. Viele Eltern investieren viel Geld in Nachhilfestunden für ihre Kinder. Die Masse glaubt: Für die besten Karrierechancen braucht man ein Studium an den angesehenen Universitäten Seouls. Für ein solches Studium wiederum braucht man gute Noten - und möglichst hohe Punktzahlen beim Scholastic Assessment Test (SAT) in Koreanisch, koreanische Geschichte, Englisch, Mathe, Wissenschaft oder Gesellschaft, der jedes Jahr in der dritten November-Woche für Studienanwärterinnen und -anwärter stattfindet.
Vor einer Woche haben Oh Hyeon-seo, 18, und Jeon Ji-seon, 18, aus Gwangju diesen Test absolviert. Sie sind jetzt nach Seoul gereist, um sich nach den anstrengenden Vorbereitungen zwei entspannte Tage in der Hauptstadt zu gönnen. Im Vergnügungsviertel Itaewon haben sie zu Abend gegessen und eine Freundin getroffen. Zum Abschluss des Tages kehren sie im Self-Studio an der Hauptstraße ein. "Wir machen das jedes Mal", sagen sie. Ungefähr 50 Bilder haben sie schon. Sie wirken entspannt und in tiefem Frieden mit sich selbst. Südkoreas Self-Studios sind Orte, an denen das wirkliche Leben Pause hat.