Als das Jahr 2016 endlich vorbei ist, als das neue Jahr neue Bilder bringen soll, fliegt eine Rakete quer über den Bahnhofsvorplatz in Köln. Sie prallt ein paar Mal auf den Asphalt, Funken sprühen, Menschen springen zur Seite, kreischen, der Schütze johlt. Es ist eine Szene, wie sie sich tausendmal abspielt um kurz nach null Uhr an Silvester in Deutschland. Doch gewöhnlich ist sie trotzdem nicht. Kaum sieht man den Schützen, sieht man auch schon Polizisten in gelben Warnwesten, die ihn umringen, sie sind überall, einer dreht ihm die Arme auf den Rücken. Der Schütze ist seinem Aussehen nach ein Nordafrikaner.
Ein paar Sekunden später, weiter nach links, die Treppen hoch zum Dom, tanzt ein Mann ganz alleine auf der Stelle, setzt einen Fuß vor den anderen und zieht ihn wieder zurück, schwingt die Arme, ein wenig erinnert das an den berühmten Tanz von Carlton aus der Neunzigerjahre-Serie "Der Prinz von Bel-Air". Der Mann trägt dabei Kopfhörer, wie sie Fußballer aufhaben, wenn sie aus dem Mannschaftsbus kommen: groß wie Donuts. Er hört gar nicht mehr auf zu tanzen, immer wieder dieselbe, alberne Bewegung. Die Leute lächeln ihn an, Polizisten stehen daneben. Der Tänzer ist seinem Aussehen nach ein Nordafrikaner.
Es ist eine Frage des Standpunkts, an welche Bilder sich die Menschen erinnern werden von dieser Silvesterfeier am Kölner Dom; dem Tatort, der vor einem Jahr das Land verändert hat, weil Hunderte Frauen Opfer sexueller Gewalt von Hunderten Männern wurden, die vor allem Nordafrikaner waren.
Die Fakten: Am Ende der letzten Nacht des Jahres 2016 wird die Polizei verkünden, dass das massive Aufgebot - 1500 Beamte in der Stadt, 300 Bundespolizisten an den Kölner Bahnhöfen - notwendig war. Weil wieder mehr als 600 junge Nordafrikaner in großen Gruppen da waren, die schon an den Bahnhöfen gestoppt wurden; weil fünf Frauen begrapscht worden sind. "Wir leben in Zeiten, in denen mehr Polizei benötigt wird, wenn die Leute friedlich feiern wollen", wird Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger sagen. Das ist die eine Geschichte der Nacht. Die andere geht so: 50 000 Menschen haben am Dom Silvester gefeiert - und eigentlich ist sehr wenig passiert.
Es ist wohl auch eine Frage des Standpunkts, welche dieser Geschichten man mit ins Jahr 2017 nehmen möchte.
Als der Silvesterabend beginnt, geht die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker zum ersten Mal in dieser Nacht über den Roncalliplatz südlich des Doms. Reker lobt das Lichtkunstwerk, das aus Wörtern besteht, die die Kölner dem Lichtkünstler Philipp Geist schicken konnten, damit er sie auf den Boden und die Fassaden projiziert. "Integration" ist zu entziffern, "Güte", "Frieden". Geist hat auch Kreide ausgelegt, Kinder sitzen auf dem kalten Boden und malen das Wort "Toleranz". Reker spricht von einer "Atmosphäre, die den Kölnern ihr Selbstbewusstsein zurückgibt". Damit könnte Reker sogar ein wenig sich selbst meinen, nach diesem auch für sie nicht einfachen Jahr - Stichwort: Armlänge Abstand -, wenn sie nicht so ungern über Gefühle sprechen würde.
Die Polizei war am Kölner Dom diesmal so präsent, als würde Rosenmontag mit einer Meisterschaftsfeier des 1. FC Köln zusammenfallen, also wie nie zuvor. Das drückte auf die Stimmung.
(Foto: Maja Hitij/Getty Images)Reker friert, sie hat eine Mütze auf und ihre Jacke mit Fellkragen bis ganz nach oben zugezogen, doch sie nimmt sich genug Zeit, um noch mal zu erklären, was sie in den Tagen zuvor so oft erklärt hat: Worum es an diesem Abend geht. Silvester auf der Domplatte, das ist für Reker ein Feldzug. "Mir ist wichtig, dass die Kölner sich diesen Raum zurückerobern", sagt sie.
Es ist ein Symptom unruhiger Zeiten, wenn Politiker in friedlicher Absicht Worte wählen, die für den Krieg gedacht sind.
Zwei Tage vorher, im Severinsviertel, vom Dom knapp zwei Kilometer den Rhein hinunter, ist von unruhigen Zeiten eigentlich nichts zu spüren. Es sei kein einfaches Jahr für die Kölner gewesen, hatte Reker immer wieder gesagt. Und so viel wurde von draußen über die Stadt geschimpft. Doch hier, im Süden, das muss auch mal geschrieben werden, ist die Stadt nicht so hässlich und grau, wie viele sie beschrieben haben, die im Januar 2016 für Reportagen über die angeblich so gefährliche Stadt und über schlecht gelaunte Kölner herkamen und sich lieber schnell wieder in einen Zug gesetzt haben, bevor sie einen netten Kölner treffen konnten. In einer der engen Straßen am Rhein kleben an der Fensterfront einer Kirche Sterne aus Pergamentpapier, dahinter dreht sich ein Krippenkarussell, an der Wand hängen Porträts, Familien, Mütter und Töchter.
Im Saal probt zum ersten Mal der Gospelchor, der an Silvester auf der Domplatte auftreten wird. Eine typisch kölsche Geschichte eigentlich: Der Gemeindeleiter hatte im November die Idee, mit seinem Chor bei der Silvesterfeier vorbeizukommen. Und bei der Stadt Köln waren sie irgendwie froh, dass jemand eine Idee hatte.