Der Adler hat im Laufe der Jahrtausende als Symbolfigur so einiges erdulden müssen. Von den Römern über das napoleonische Frankreich bis zu den Vereinigten Staaten haben sich alle möglichen Reiche (und Möchtegern-Reiche) sein scharfes Schnabelprofil heraldisch zu eigen gemacht. Nach dem Löwen ist er das zweithäufigste Hoheits-, Wappen- und Flaggentier überhaupt. Götterbote und König der Vögel soll er sein, Härte und Herrschaftswillen ausstrahlen und was Menschen noch so alles an anthropomorphen Eigenschaften in ihre Mitkreaturen hineinprojizieren. Wenn der Adler nach allgemeiner Wahrnehmung für eins eher nicht steht, dann ist es rührende Elternliebe.
Wie falsch wir da mal wieder liegen, zeigt spätestens der Fall eines Seeadlerkükens auf der schottischen Hebrideninsel Mull. Im April vergangenen Jahres war es von einem Sturm mitsamt dem ganzen Horst weggeblasen worden, zu Boden gestürzt und hatte sich dabei einen Flügel gebrochen. Statt es seinem Schicksal zu überlassen, fütterte das Elternpaar es am Boden weiter mit Fisch durch und ließ sogar die diesjährige Brutsaison aus, um ihr mittlerweile ausgewachsenes Einjähriges weiter betreuen zu können.
Nun zeigen einem BBC-Bericht zufolge Aufnahmen der Königlichen Gesellschaft für Vogelschutz (RSPB) das flügge gewordene Adlerjunge im Flug – mit einer deutlich sichtbaren Ausbuchtung im linken Flügel, offenkundig eine Folge des ausgeheilten Bruchs.
Der RSPB-Beauftragte für Mull, Dave Sexton, nennt den Seeadler ein „Wunderküken“. „Wir halten Adler für rein instinktgesteuert und emotionslos“, so Sexton laut BBC. „Aber offensichtlich haben sie auch eine ganz andere Seite.“ Das fürsorgliche Verhalten der Eltern bezeichnet der Experte als „beispiellos“ für diese Art. Er habe so etwas in 30 Jahren Adlerbeobachtung noch nie gesehen. Der Flug des genesenen Jungadlers sei wegen des Flügelbruchs übrigens etwas „schräg“, sagt David Sexton. Aber mit einem hatten die Heraldiker dann doch recht: Majestätisch schaut es aus, das Wunderküken.
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