Gleichberechtigung in der Schweiz:Kampf um die letzte Männerbastion

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Die Rollen beim traditionellen Zürcher Sechseläuten-Umzug sind klar verteilt: Die Männer stolzieren und lassen sich bewundern ... (Foto: Melanie Duchene/Keystone/dpa)

In der Schweiz haben Zünfte großen gesellschaftlichen Einfluss, unter anderem gelten sie als Karrierenetzwerke - bislang aber in Zürich fast ausschließlich für Männer. Jetzt überlegt die größte Zunft der Stadt, auch Frauen aufzunehmen. Ein Paradigmenwechsel?

Von Isabel Pfaff, Bern

Das Sechseläuten in Zürich ist legendär, jenes Frühlingsfest im April, bei dem die Mitglieder der 26 Zürcher Zünfte und Gesellschaften mit Tschingderassabum durch die Straßen der Stadt ziehen. Zum Abschluss wird der Böögg verbrannt, ein riesiger künstlicher Schneemann. Je schneller der Böögg den Kopf verliert, desto schöner soll der Sommer werden. 2020 und 2021 musste das Sechseläuten wegen der Pandemie ausfallen, aber es ist davon auszugehen, dass sich, hätte die Veranstaltung stattgefunden, an den Bildern nichts geändert hätte: Zu sehen sind hauptsächlich Männer.

Auf den Bildern vom Sechseläuten-Umzug taucht zwar auch die ein oder andere Frau im Getümmel auf: weibliche Ehrengäste zum Beispiel, Musikantinnen oder auch mal eine leicht bekleidete Bauchtänzerin, die den Wagen der "Zunft zum Kämbel" schmückt.

... und die Frauen lächeln, winken und verschenken Blümchen. Außer sie sind Ehrengäste, wie hier die Schweizer Schlagersängerin Beatrice Egli beim Sechseläuten im Jahr 2017. (Foto: Walter Bieri/picture alliance / Keystone)

Doch die Hauptpersonen beim Sechseläuten sind Männer, etwa 3500 Zünfter in ihren Trachten und Kostümen. Frauen dürfen ihnen vom Straßenrand zuwinken und Blumen und Küsschen verteilen. Aber als Mitglieder sind sie nicht vorgesehen in den Vereinen, die sich als die Erben der mittelalterlichen Handwerkervereinigungen verstehen, die bis Ende des 18. Jahrhunderts auch die politische Macht in Zürich innehatten.

Eine Arbeitsgruppe für die Frauenfrage

Mit dieser Ordnung - Männer stolzieren, Frauen jubeln - könnte es jedoch bald vorbei sein. Wie kürzlich das Schweizer Radio berichtete, denkt die größte Zürcher Zunft darüber nach, ob es nicht doch langsam an der Zeit sei, auch Frauen zuzulassen. Die "Zunft zur Meisen", hervorgegangen aus der Vereinigung der Weinhändler, Wirte, Sattler und Maler, hat nach Angaben ihres Zunftmeisters Gustav von Schulthess eine Arbeitsgruppe gegründet, die eruieren soll, ob und wie Frauen am Zunftleben teilhaben könnten. "Frauen aus einer Zunft auszuschließen, ist eigentlich nicht mehr zeitgemäß", sagte Schulthess der NZZ.

Als das publik wurde, war was los in der Schweiz. Von "Paradigmenwechsel" schrieben die Zeitungen, vom "Ende einer Männerherrschaft".

Um die Aufregung zu verstehen, muss man wissen, welche Rolle Zünfte und ähnliche Zusammenschlüsse in der Schweizer Gesellschaft spielen. Es handelt sich nämlich nicht einfach nur um kostümbegeisterte Folklorevereine, sondern um bis heute erstaunlich einflussreiche Verbände - obwohl sie wohlgemerkt aus einer Zeit stammen, in der Abstammung und Standesdenken die Gesellschaft prägten und nicht Prinzipien wie Rechtsgleichheit und Demokratie. Sie heißen in manchen Regionen Zünfte, in anderen Bürger- oder Burgergemeinden, zum Teil existiert beides parallel. Sie sind unterschiedlich strukturiert und unterschiedlich mächtig. Gemeinsam aber haben alle, dass ihnen der Sprung in die Gegenwart trotz ihrer überkommenen Strukturen überraschend gut gelungen ist - und das ausgerechnet in der Schweiz, dieser vermeintlichen Urdemokratie.

Mitgliedschaft qua Geburt oder Adoption

Ein prominentes Beispiel für ein solches Überbleibsel der Vormoderne ist die Burgergemeinde in Bern mit ihren 18 700 Mitgliedern, eine öffentlich-rechtliche Körperschaft mit eigener Verfassung und eigenem Wahlsystem. Sie ist, vereinfacht gesagt, die Erbin der alten Berner Regierung, die die Geschicke des mächtigen Stadtstaats bis Ende des 18. Jahrhunderts prägte und sich vor allem aus den Patrizierfamilien rekrutierte. Burgerin oder Burger ist man qua Geburt oder Adoption, man kann aber auch ein Gesuch auf "Einburgerung" stellen.

Die Burgergemeinde besitzt Immobilien, ein Kulturhaus, ein Museum, eine Bibliothek, Wälder und sonstige Ländereien, und mit ihrem Milliardenvermögen spielt sie eine bedeutende Mäzenatenrolle in der Bundesstadt. Darüber hinaus hat sie auch staatstragende Aufgaben: Für ihre Angehörigen übernimmt sie die Sozialhilfe und das Vormundschaftswesen. Die Burgergemeinde bildet also eine Art Parallelstruktur zur politischen Gemeinde Bern. Frauen gibt es bei den Burgern übrigens schon immer, mitbestimmen dürfen sie allerdings erst seit den 1960er-Jahren.

Auch in Basel existiert noch so eine wohlhabende Bürgergemeinde, und unter ihrem Dach gibt es auch Zünfte. Die haben zwar keine staatliche Aufgaben mehr, gelten aber als wichtiges soziales Netzwerk in der Stadt. Eines, zu dem Frauen erst seit Kurzem Zutritt haben: Die meisten Basler Zünfte waren ähnlich wie in Zürich reine Männerklubs. Nach jahrelanger Streiterei hat die Bürgergemeinde dies im September in den Reglementen geändert, in den Zunftverordnungen ist künftig geschlechterneutral von "Zunftmitgliedern" statt von "Zunftbrüdern" die Rede.

Und in Zürich? Dort sind die Zünfte zwar "nur" privatrechtliche Vereine ohne besondere Aufgaben, aber auch hier macht der Netzwerkcharakter viel ihrer ungebrochenen Anziehungskraft aus. Nach wie vor sind die alten, einflussreichen Zürcher Familien in den Zünften vertreten, dazu die neue Elite aus Politik und Wirtschaft. Bankmanager wie Josef Ackermann oder Urs Rohner sind Mitglieder der "Zunft zur Meisen", ebenfalls der frühere Swiss-Re-Chef Walter Kielholz. Auch der prominente Verleger und Politiker Roger Köppel ist seit einigen Jahren Zünfter. Kein Wunder: Es könne "für Karriere und Geschäfte immer noch hilfreich sein, wenn man dieses Netzwerk kennt", bekannte vor einigen Jahren recht freimütig der damalige Präsident des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs.

Alle Berufe vertreten, vom Arzt bis zum Lastwagenfahrer - nur eben keine Frauen

Georg Steiger, Zunftmeister der "Zunft zum Widder" und derzeit Vorstand der Zürcher Zunftmeisterversammlung, will das so nicht stehen lassen. "Die Zünfte sind mit Sicherheit kein elitärer Zirkel, der Zürich beherrscht", sagt er. Wichtige Voraussetzungen für eine Aufnahme seien "ein guter Leumund, eine gelebte Beziehung zu Zürich und die Freude an Traditionen". In seiner Zunft seien alle Berufe vertreten, vom Arzt bis zum Lastwagenfahrer.

Nur Frauen, die sind eben nicht dabei. Seit den 1980er-Jahren gibt es in Zürich zwar die "Gesellschaft zur Fraumünster", in der wiederum nur Frauen Mitglied werden dürfen. Aber bis heute ist die Gesellschaft nicht Teil des Zentralkomitees der Zünfte, und beim Sechseläuten-Umzug dürfen die Fraumünster-Frauen auch nur als Gäste der "Gesellschaft zur Constaffel" mitlaufen.

Jetzt ist die "Zunft zur Meisen" mit ihrer Arbeitsgruppe überraschend vorgeprescht. Fällt diese letzte Männerbastion namens Zunft also bald ganz? Zunftmeister Steiger winkt ab. "Meines Wissens ist die ,Zunft zur Meisen' die einzige, die das Frauenthema so konkret behandelt." Er betont die Vereinsautonomie: "Jede Zunft kann das für sich selbst entscheiden."

Frauen könnten sich womöglich einklagen

Allerdings steht selbst diese Argumentation inzwischen infrage. Als man zuletzt in Basel um die Zunft- und Frauenfrage stritt, ließen Politiker juristische Gutachten erstellen, um zu klären, ob der Ausschluss von Frauen in öffentlich-rechtlichen Körperschaften überhaupt zulässig ist. Ist er nicht, urteilten die Gutachter. Und zwei Juristen der Uni Zürich gingen noch weiter: Schon zivilrechtlich sei der Ausschluss von Frauen "heikel" - also auch bei Zünften wie jenen in Zürich, die als Vereine organisiert sind. Vereinsrechtlich könne der Ausschluss den Tatbestand der Persönlichkeitsverletzung erfüllen, so die Gutachter.

Würden also ein paar Zürcherinnen klagen, sähe es für sie gar nicht so schlecht aus. Könnte also sein, dass die Zürcher Zünfte bald etwas weniger wie von gestern wirken.

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