Christian Kracht muss den Fehler absichtlich eingebaut haben. Der Schweizer Schriftsteller schreibt in seinem jüngsten Roman "Eurotrash" über den Kühlschrank seiner Mutter und die "sieben Flaschen Schweizer Weißwein von der Migros" darin. Es mag den meisten deutschen Lesern nicht auffallen, aber Kracht verdreht hier die Realität: Weißwein gibt es in den Filialen der Migros, der großen, genossenschaftlich organisierten Schweizer Supermarktkette, nicht. Auch keinen Rotwein, kein Bier und keine Spirituosen. Das weiß auch der im Kanton Bern geborene Kracht, der damit wahrscheinlich nur ein bisschen ärgern wollte.
Vor Kurzem sah es aber so aus, als könnte Krachts kleine Lüge wahr und aus ihm eine Art Prophet werden. Denn die Delegierten des Migros-Genossenschaftsbunds, die in der komplizierten Konzernstruktur der Migros eine Art Parlament bilden, machten den Weg für eine Abstimmung frei, dass künftig in Migros-Supermärkten Bier, Wein und Schnaps gekauft werden dürfen - genau wie in allen anderen Schweizer Supermärkten.
Überraschend deutliches Ergebnis
Die finale Entscheidung darüber lag bei den zehn regionalen Migros-Genossenschaften und ihren 2,3 Millionen Mitgliedern - immerhin ein gutes Viertel der Schweizer Bevölkerung. Seit wenigen Tagen steht das überraschende Ergebnis fest: Das Verkaufsverbot bleibt bestehen. Sämtliche Genossenschaften haben sich deutlich gegen eine Änderung ihrer Statuten entschieden - also wohlgemerkt: gegen mehr Umsatz, gegen zusätzliche Kunden, wohl auch gegen die eigene Bequemlichkeit, denn die meisten Genossenschafterinnen und Genossenschafter dürften trotz ihrer Migros-Verbundenheit selbst keine Abstinenten sein. Trotzdem will eine Mehrheit an dem Kuriosum festhalten.
Christian Kracht ist also doch kein Hellseher und die Migros-Schweiz eine bemerkenswerte Insel des verantwortungsvollen Unternehmertums. Denn die Gegner des Alkoholverkaufs argumentierten zwar durchaus auch wirtschaftlich und hoben hervor, dass die Migros von ihrem Alleinstellungsmerkmal profitiere. Am meisten verfing aber das Gesundheitsargument: Es soll auch in Zukunft Supermärkte geben, in denen weder Jugendliche noch alkoholkranke Menschen in Versuchung geraten.
"Die Alkoholbetroffenen haben weiterhin einen geschützten Raum. Das war und ist uns wichtig", jubelte Philipp Hadorn, Präsident des Blauen Kreuzes Schweiz, das Alkoholabhängige im Kampf gegen ihre Sucht unterstützt. Dank des Neins der Genossenschafter könnten Hilfsorganisationen außerdem weiterhin Migros-Gutscheine an Alkoholabhängige abgeben, weil sie wissen, dass die Läden tabak- und alkoholfrei sind. Auch die Organisation Sucht Schweiz begrüßte den Entscheid: "Das Stimmvolk der Migros hat ein klares Zeichen gesendet: Alkohol ist eine psychoaktive Substanz, die zahlreiche gesellschaftliche Probleme verursacht."
Die 2,3 Millionen Eigentümer der Migros-Märkte: Sie sind demnach würdige Erben des legendären Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler, der das Unternehmen 1925 ins Leben rief und bis heute in der Schweiz als eine Art Nationalheld verehrt wird. Auf Duttweiler geht das weitgehend alkoholfreie Sortiment in den Filialen zurück - ein bisschen, weil er es moralisch richtig fand, dem Alkoholismus keinen Vorschub zu leisten, ein bisschen aber auch, weil er an Bier gar nicht herankam. Wegen seiner günstigen Preise boykottierten ihn die großen Brauereien. So kam es, dass die Migros seit 1928 in ihren Filialen auf den Umsatz verzichtet, den man als Supermarkt mit alkoholischen Getränken machen kann.
Profit ist nicht alles
Doch wie passt das eigentlich zusammen - die wirtschaftsliberale Schweiz, in der das Geschäftemachen wichtig und Verbote verpönt sind, und eine Abstimmung von nationaler Bedeutung, bei der Hunderttausende sagen, Profit ist nicht alles? Die Antwort liegt wahrscheinlich in der schweizerischen Mentalität. Exzess ist den meisten Eidgenossinnen und -genossen eher fremd, sie pflegen die Zurückhaltung, setzen auf Mäßigung und Ausgleich. Das betrifft auch den Alkoholkonsum. Selbst wenn man ältere Schweizer oft schon beim Mittagessen Wein trinken sieht und die Tradition des spätnachmittäglichen "Apéro" nahelegt, dass in der Schweiz viel und gern getrunken wird, liegt der jährliche Konsum bei bescheidenen 7,6 Litern Reinalkohol pro Kopf, das ist eher wenig im europäischen Vergleich, Deutsche, Franzosen und Österreicher trinken deutlich mehr. Bei derlei Gewohnheiten fällt es womöglich leichter, den größten Supermarkt im Land alkoholfrei zu belassen. Zumal es eben auch einfach eine Tradition ist. Damit bricht man in der konservativen und auf Kontinuität bedachten Schweiz eher ungern.
Und: Ganz trocken geblieben ist die inzwischen zum Mega-Konzern herangewachsene Migros-Gruppe ohnehin nicht. Im Onlinehandel und über Tochterfirmen wie Denner oder Migrolino verdient sie schon lange am Alkoholkonsum mit.