Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Edelweiß-Empörung

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Können Alpenblumen rassistisch sein? In der Schweiz eskaliert ein Streit um ein traditionelles Hemd.

Von Charlotte Theile, Zürich

Als am Freitagmorgen zehn Schüler einer Realschulklasse in Gossau, Kanton Zürich, ihre Edelweißhemden überzogen, war das als Provokation gedacht. Die Schüler wollten zeigen, dass sie "stolze Schweizer" sind. An der Schule soll es seit einiger Zeit Auseinandersetzungen zwischen Schweizern und Einwanderern aus dem Balkan geben. Die Provokation zündete - besser als sich das die Schüler hätten ausdenken können. Es folgte: ein klassisches Lehrstück über Empörung, Eskalation, Instrumentalisierung.

Erster Akt: Die Lehrerin. Aufgeschreckt von der Uniform ihrer Schüler, verbietet sie das traditionelle Kleidungsstück. Sie sollten sich umziehen. Es fällt das Wort "rassistisch".

Zweiter Akt: Die Medien. Zwei Tage später hat es die Schulstreitigkeit in die Sonntagszeitung geschafft. Unter der Überschrift "Rassismusvorwurf wegen Schwingerhemd" wird der Vorfall öffentlich. Die Fallhöhe ist gigantisch. Das Edelweißhemd, ein urschweizerisches Kleidungsstück, getragen von den Kämpfern beim dem Ringen ähnlichen Schwingsport, soll rassistisch sein? Die Schüler, inzwischen aufgeladen mit nationaler Bedeutung, liefern noch eine weitere Steilvorlage: "Ein Kopftuch darf man in der Schule tragen, aber mit einem Edelweißhemd kriegt man einen Anpfiff. Das verstehen wir nicht."

Dritter Akt: Social Media. Es ist Sonntagabend, das Hashtag #Edelweisshemd wird auf Twitter immer häufiger gebraucht. Ein konservativer Journalist postet ein Bild im blauen Hemd mit weißen Blüten. Es sieht harmlos aus.

Vierter Akt: Die Politik. Erwachsene Männer, Abgeordnete im Zürcher Kantonsrat, erscheinen am Montag im Edelweißhemd. Es soll ein Akt der Solidarität mit den Schülern in Gossau sein. Dort hat der Schulleiter längst mitgeteilt, das Hemd sei keineswegs verboten, die Lehrerin sehe ein, dass sie überreagiert habe. Die Präsidentin des Zürcher Lehrerverbands meldet sich zu Wort und wiederholt, was alle wissen: Die Lehrerin habe überreagiert, man dürfe in der Schule alles tragen, was den Unterricht nicht störe. Auch hellblaue Hemden mit Alpenblumen drauf.

Fünfter Akt: Und jetzt? In Straßenumfragen haben geschätzte vier von fünf Schweizern ihre Meinung zum Edelweißhemd kundgetan, an der Realschule Gossau waren die Hemden am Montag nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich befinden sie sich in der Wäsche.

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Quelle:
SZ vom 16.12.2015
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