Schweiz:Das Rätsel von Uri

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Vom "Staatsfeind Nummer 1", wie er in Uri genannt wurde, ist Ignaz Walker, 47, zum Justizirrtum Nummer 1 des Kantons geworden. (Foto: Alexandra Wey/Keyston/picture alliance)

Seit Jahren verfolgt die Schweiz gebannt den Fall eines Bordell-Betreibers, der angeblich seine Frau ermorden lassen wollte. Vor Gericht sieht es nun so aus, als handle es sich um einen unglaublichen Justizskandal.

Von Charlotte Theile, Altdorf

Auf dem Platz vor dem Obergericht in Altdorf ist schönstes AlpenKlischee: Gegenüber dem Wilhelm-Tell-Denkmal werden Maroni verkauft, eine japanische Reisegruppe fotografiert, an den Bergspitzen ziehen Schäfchenwolken vorbei. Dass in dieser heilen Welt des Schweizer Kantons Uri juristische Beweise manipuliert und ein Unschuldiger gezielt hinter Gitter gebracht worden sein sollen, ist schwer vorstellbar. Doch für die Beobachter des Prozesses drängt sich dieser Schluss immer mehr auf. Oder wie der Verteidiger des Angeklagten an diesem Nachmittag vor Gericht sagt: Dies sei "das pannenreichste Verfahren der Urner Justizgeschichte".

Gleich am Anfang des Prozesstages erschüttert eine Neuigkeit das Gericht

Es ist ein komplexer Fall, und einer, der die Schweizer seit Jahren bannt: Nachdem seine Frau angeschossen worden war, ist der Cabaret-Betreiber Ignaz Walker 2013 wegen versuchten Mordes und versuchter vorsätzlicher Tötung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Seither gibt es immer mehr Ungereimtheiten: Ein für das Urteil entscheidender DNA-Beweis ist inzwischen nicht mehr zugelassen, ein wichtiger Zeuge hat seine Aussage geändert und ein Belastungszeuge aus den Niederlanden - Walker soll Monate vor der Tat vor seiner Bar auf ihn geschossen haben - war plötzlich unauffindbar. Kurz: Immer neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Walker, der zuvor mehrmals mit den Urner Polizisten aneinandergeraten war, Opfer eines Komplotts geworden ist - und dass die Justiz des Kantons alles getan hat, um den Mann aus dem Rotlichtmilieu trotz großer Zweifel ins Gefängnis zu bringen.

Jetzt wird sein Fall neu aufgerollt. Wieder vor dem Urner Obergericht, das ihn 2013 verurteilt hatte. Und nun über seine eigene Rechtsprechung befinden muss. Gleich zu Beginn des Tages erschüttert eine Neuigkeit das Gericht: Wie die Recherchen des Schweizer Fernsehens an diesem Mittwoch zeigen, hatte die Staatsanwaltschaft Kontakt zu dem niederländischen Belastungszeugen. 2013 leistete die Staatsanwaltschaft demnach Rechtshilfe in einem Verfahren, das in Frankreich gegen ebenjenen Peeters lief - sie wusste also, wo sich der Mann befand. Gleichzeitig erklärte sie vor Gericht, Peeters sei unauffindbar, ihn erneut zu befragen sei unmöglich.

Das ist brisant, da Peeters bei seiner ersten Aussage einen Alkoholgehalt von 2,58 Promille hatte. In diesem Zustand belastete er Ignaz Walker schwer mit seinem Vorwurf. Doch später soll Peeters wieder auf Walker zugekommen sein, sich bei ihm entschuldigt haben: Die Polizei, mit der sich Walker in den Jahren zuvor immer wieder angelegt hatte, hätte ihn zur Lüge überredet. Walker sagt, er habe mit seinem Anwalt gesprochen, danach habe er den Holländer zur Polizei gefahren. Dann, so sieht es Walker heute, muss etwas Seltsames passiert sein - denn eine zweite Aussage von Johannes Peeters gibt es in den Protokollen der Polizei nicht. Und weil der Holländer bald darauf angeblich spurlos verschwand, wurde die erste Aussage, die mit den 2,58 Promille, vor Gericht verwendet. Zum Schaden von Ignaz Walker: Der 47-Jährige wurde wegen der Schüsse auf Peeters und eines weiteren Falles zu dieser hohen Strafe verurteilt.

Auch dieser zweite Fall ist alles andere als klar: Im November 2010 wurde auf die damalige Ehefrau Walkers geschossen - sie beschuldigte noch vom Krankenhausbett aus ihren Ehemann: Er habe einen Auftragskiller engagiert, um sie umzubringen. So stand es am Tag nach den Schüssen in der Boulevard-Zeitung Blick.

Die Polizei übernahm die These damals bereitwillig, Walker kam in Untersuchungshaft, bald darauf wurde ein junger Serbe namens Sasa Sindelic festgenommen. Er wurde als Auftragskiller verurteilt. Doch 2015 wendete er sich an die Öffentlichkeit: Er sei Teil eines Komplotts gewesen, das Ziel: Ignaz Walker hinter Gitter zu bringen. Walker, inzwischen seit mehr als vier Jahren in Haft, wurde Ende Januar 2015 freigelassen. Nach nur drei Monaten wurde er wieder festgenommen. Kurz vor dem Prozess kam er erneut frei.

"Machen Sie diesem Albtraum endlich ein Ende", sagt der Anwalt zum Richter

Dieses Durcheinander setzt sich am Mittwoch vor Gericht fort: Der Gutachter, der am Montag noch erklärt hatte, die Version, die das angebliche Opfer nach der Tat geschildert hatte, sei mit den Spuren vom Tatort kaum zu vereinbaren, das Komplott um einiges wahrscheinlicher, rudert zurück. In einer langwierigen Ergänzung erklärt er, dass er das Komplott nun doch nicht für wahrscheinlich hält.

Am Nachmittag das Plädoyer von Walkers Verteidiger, Linus Jaeggi, in dem der Zeuge aus Holland wieder eine große Rolle spielt. Jaeggi fordert das Gericht auf: "Machen Sie diesem Albtraum endlich ein Ende." Er legt Urkunden vor, die unter anderem belegen, dass die Staatsanwaltschaft wusste, dass Peeters Teil eines Drogenschmugglerrings war, der Amphetamine und Kokain in den Kanton Uri beförderte. Dieser Hintergrund wirft ein neues Licht auf den Schuss auf den Holländer, den Walker abgegeben haben soll. Vor wenigen Wochen ist der Mann an Krebs gestorben.

Das Schweizer Bundesgericht, das den Fall 2014 zur Neu-Beurteilung zurückgegeben hatte, maß der Befragung dieses Belastungszeugen besondere Bedeutung zu. Man müsse alles tun, um Peeters ausfindig zu machen und zu befragen. Doch die nun vorliegenden Dokumente legen nahe: Die Staatsanwaltschaft wusste, wo er ist - und schaffte ihn absichtlich nicht herbei.

"So etwas darf in einem Rechtsstaat nicht durchgehen", sagt der Verteidiger in die wachsende Unruhe im Gerichtssaal hinein. Für ihn gibt es nur einen Schluss: Walker müsse freigesprochen werden. Das Verfahren läuft noch bis Anfang November.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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