Drohender Bergsturz über Brienz:Warten auf Phase Blau

Drohender Bergsturz über Brienz: Phase Rot: Die Zufahrt nach Brienz ist seit Freitag, 12. Mai, nicht mehr möglich.

Phase Rot: Die Zufahrt nach Brienz ist seit Freitag, 12. Mai, nicht mehr möglich.

(Foto: Arnd Wiegmann/AP)

Der Berg über dem Schweizer Dorf Brienz droht abzurutschen. Doch wie viel Zeit bleibt noch? Fragen an die Geologen, die den Berg zurzeit fast rund um die Uhr überwachen.

Von Isabel Pfaff, Chur

Seit rund einer Woche herrscht Alarmstimmung im Kanton Graubünden. Der Felshang über dem Schweizer Bergdorf Brienz droht in die Tiefe zu stürzen und das Dorf unter sich zu begraben. Und zwar nicht irgendwann, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit sehr bald. Drei bis 20 Tage - so viel Zeit bleibt laut Geologen voraussichtlich noch, bis sich die "Insel", ein besonders beweglicher Teil des Hangs, vom Berg lösen und in Richtung Brienz stürzen wird.

Die Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, hat deshalb am vergangenen Freitag die "Phase Rot" ihres Notfallplans aktiviert: sofortige Evakuierung des Dorfes einschließlich der Nutztiere, Sperrung der Zufahrtsstraßen und striktes Verbot, das Dorf zu betreten. Um 18 Uhr am Freitag, so teilte der Gemeindeführungsstab mit, war Brienz leer. Für wie lange das so bleibt, kann keiner sagen: Die Gemeinde bat die Betroffenen, sich auf eine Dauer von Wochen, womöglich Monaten einzustellen.

Eine absurd präzise vorhergesagte Naturkatastrophe

Seit der Evakuierung warten die gut 80 Dorfbewohnerinnen und -bewohner in ihren Interimsunterkünften darauf, was passiert - und mit ihnen fast die ganze Welt. Die absurd präzise vorhergesagte Naturkatastrophe fasziniert Menschen weit über die Schweiz hinaus. Woher wissen die Fachleute, dass es voraussichtlich in den nächsten Tagen zum Rutsch kommen wird? Und wie arbeiten sie?

Die Gemeinde Albula hat an diesem Mittwoch in der Kantonshauptstadt Chur zur Pressekonferenz geladen, das Interesse ist riesig. Der Frühwarndienst stellt sich vor: Da ist Geologe Stefan Schneider, Leiter des Frühwarndienstes für Brienz, mit seinem Team, dazu Fachleute vom kantonalen Amt für Wald und Naturgefahren sowie mehrere externe Experten.

Schneiders Leute beobachten derzeit mehrmals täglich, was sich am Berg über Brienz tut. Die entsprechenden Daten liefern ihnen ein Georadar, der den gesamten Hang scannt, ein Steinschlagradar, ein Tachymeter, der Bewegungen mittels Reflektoren misst, GPS-Stationen und hochauflösende Kameras, die stündlich Fotos machen. "Diese Messinstrumente funktionieren in der Kombination sehr gut", sagt Schneider. Sein Team sichtet und interpretiert die Daten. Früher, als sich die "Insel" noch nicht so schnell bewegte, werteten die Geologen das Material einmal pro Woche aus. Zurzeit tun sie es - bis auf nachts - alle paar Stunden.

Alle Messsysteme zeigen im Moment in etwa das Gleiche an: eine exponentielle Entwicklung der Rutschgeschwindigkeit. "Die Empfehlungen fielen angesichts der Datenlage einstimmig aus", sagt Stefan Schneider. Und so rief die Gemeinde Anfang Mai Phase Gelb aus: Bereithalten zur Evakuierung. Phase Orange und Rot folgten dann nur wenige Tage später.

Wird es je wieder möglich sein, in Brienz zu leben?

Stefan Schneider zeigt jetzt Bilder vom Steinschlagradar von Mittwochmorgen: Ein "Ereignis" ist da zu sehen, Steinschläge, wie sie sich offenbar gerade ständig über Brienz ereignen. Ist der Bergsturz, auf den gerade alle warten, nicht schon längst im Gang? Die Experten verneinen. Man müsse davon auszugehen, dass es bald einen "Prozesswechsel" geben wird. Im Moment geht es um einzelne Felsbrocken von ein paar Kubikmetern. Von einem Felssturz spricht man erst ab 10 000 Kubikmetern - das ist Szenario 1 für Brienz, das wahrscheinlichste. Szenario 2 ist das langsame, aber lange andauernde Abrutschen der Felsmasse als Schuttstrom. Erst bei einem plötzlichen Abbruch von mindestens einer halben Million Kubikmeter spricht man von einem Bergsturz - das unwahrscheinliche, aber mögliche Szenario 3.

Was Brienz demnächst ereilen wird, ist die eine Frage. Die andere Frage betrifft die Zukunft: Wird es je wieder möglich sein, in dem Dorf zu leben? Auch darauf haben die Fachleute an diesem Vormittag eine Antwort, zumindest eine mögliche. Die Hoffnungen der Gemeinde ruhen auf dem Bau eines Entwässerungsstollens. Ein zwischen 2021 und 2022 gegrabener Teststollen unter Brienz hat bestätigt, was man in den vergangenen Jahren bereits vermutete: dass Wasser das lose Gestein besonders stark ins Rutschen bringt, und dass eine Entwässerung die Rutschung bremsen kann.

Wie Urban Maissen, Chef des Amts für Wald und Naturgefahren, erläutert, bereite man derzeit das Projekt Entwässerungsstollen vor. Dafür seien Entscheidungen der Gemeinde, des Kantons und auch des Bundes nötig. Ein Baubeginn sei im Sommer 2024 denkbar. Womöglich also kann man den Brienzer Hang reparieren.

Doch zunächst müssen sie in Graubünden abwarten, was mit dem Berg geschieht. Die Geologen beobachten ihn weiter und bereiten sich auf Phase Blau vor: Diese tritt dann ein, wenn der Felsabbruch unmittelbar bevorsteht.

Zur SZ-Startseite

Brienz in Graubünden
:Ein Dorf zieht aus

Die Gesteinsmassen über dem Bergdorf Brienz bewegen sich so schnell, dass das Dorf geräumt werden muss. In ein bis drei Wochen könnte der Fels abrutschen - und das Dorf erfassen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: