Nach Tagen des Grauens und des Graus scheint an diesem Sonntag zum ersten Mal wieder die Sonne, Paris ist strahlend schön. Viele Pariser machen sich schon früh auf zur Place de la République, um 13 Uhr, also zwei Stunden, bevor es eigentlich losgeht, ist der Platz voll. Die Leute kommen aus ganz Frankreich, ja Europa, zwei junge Männer mit Rucksack sind mit dem Zug aus Polen angereist, in Frankreich hat die Bahn alle Tickets nach Paris auf 50 Prozent des regulären Preises gesenkt, eine Art republikanischer Rabatt, jeder soll hierherkommen können, schließlich geht es um die Einheit des Landes.
Dabei wird diese Einheit innenpolitisch demontiert: Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Front National, rief ihre Anhänger dazu auf, überall in Frankreich zu demonstrieren, nur nicht in Paris: Die Demonstration sei leider "von Parteien gekapert worden, die das repräsentieren, was die Franzosen hassen: den Kleingeist, die Manipulation und die schamlose Polemik". Diese so kleingeistige wie schamlos manipulative Rhetorik deutet darauf hin, dass es mit der von Staatspräsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls immer wieder beschworenen Einheit der Nation nicht weit her sein dürfte in den Wochen, die dem Land bevorstehen.
Abbas nur Meter von Netanjahu entfernt
An diesem Sonntag aber scheint dann doch ganz Frankreich, ganz Europa erstmal hier zusammengeströmt zu sein. 50 Staats- und Regierungschefs sind gekommen, der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas genauso wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu; die beiden gemeinsam in einer Demonstration, nur durch vier andere Politiker, alle untergehakt, voneinander getrennt - noch vor einer Woche: ein unvorstellbares Bild.
Dazu kommen Matteo Renzi aus Rom, David Cameron aus London, Mariano Rajoy aus Madrid, EU-Ratspräsident Donald Tusk, die ganze EU ist da, und man kann über Symbolpolitik lästern, soviel man will: dass die Regierungschefs Europas zusammen mit dem Präsidenten des Europäischen Rats gemeinsam von der République in Richtung Nation laufen, wie die Pariser die beiden Plätze nennen - das ist ein starkes Zeichen für Europa.
"Hauptstadt der Welt"
Aus Deutschland reiste die gesamte Regierungsspitze an, neben der Bundeskanzlerin und ihrem Vize Sigmar Gabriel sind auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Innenminister Thomas de Maizière da. Der hatte sich bereits vormittags auf Einladung seines französischen Kollegen Bernard Cazeneuve zusammen mit anderen Innenministern der EU und dem amerikanischen Justizminister zu einem "Austausch über die Herausforderung, die die Terroristen für uns alle bedeuten" getroffen. Sprich: Die Sicherheitspolitik soll besser aufeinander abgestimmt werden. Die zentrale Frage wird sein, ob Europa sich jetzt ähnlich mit Stahl gürtet wie die Amerikaner nach dem 11. September 2001.
Das noch wichtigere, beeindruckendere Bild aber gibt am Ende die französische Bevölkerung ab. So viele Menschen haben sich noch nie in Paris versammelt, und François Hollandes großer Satz, Paris sei an diesem Sonntag "die Hauptstadt der Welt", fühlt sich gegen drei Uhr tatsächlich richtig an. Über die Place de la République schwappt immer wieder die Marseillaise, wer dort steht, sieht nicht, wohin man sich noch fortbewegen könnte, die Menge staut sich kilometerweit in die Stadt hinein. Eine Verbrüderungsfeierlichkeit ergreift den Platz. Die Stimmung ist bewegt, keine Hassgesänge, keine Abrechnungen. Viele Menschen weinen, nach den einsamen Tagen in Schockstarre vor dem Fernseher will man sich hier auch vergewissern, dass es so etwas wie eine Gemeinschaft in dem ohnehin vor sich hin erodierenden Land überhaupt noch gibt.
Trauermarsch nach Terroranschlag:Größte Kundgebung in Frankreichs Geschichte
Etwa 1,5 Millionen Menschen, darunter Dutzende Regierungschefs, haben an einem Schweigemarsch in der Innenstadt von Paris teilgenommen. Dem französischen Innenminister zufolge handelt es sich um die größte Kundgebung in der Geschichte des Landes.
Tausende "Je suis Charlie"-Zettel und Rotwein
Aus einem Fenster flattern Tausende Zettel: "Je suis Charlie", ich bin Charlie, der Satz, der in der Welt bleiben und wohl nie mehr vergessen wird, auch von Menschen, die kein Französisch sprechen. Irgendwann werden es fast zu viele Charlies, so eng stehen die Leute beieinander, und diejenigen, die an diesem Tag für die Sicherheit zuständig sind, werden noch in vielen Jahren heimlich dankbar Kerzen anzünden für den Schutzpatron der Stadt, dafür dass hier alles gut gegangen ist.
Eine Frau aus Rouen verteilt Rotwein in kleinen Gläsern, sie hat zehn Flaschen dabei und wünscht allen: "Bon Courage!", viel Mut. Neben ihr muss ein schiitischer Imam aus London in alle Kameras schwören, dass er Terrorismus nicht toll findet; er macht das immer wieder gerne. Einige Muslime klopfen ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, sie sind froh, dass er für sie diesen Bekenntnismarathon übernimmt.
Wenn all diese Salafisten, die da draußen noch rumrennen, nicht gerade beim Schießen im Wald waren oder sonstigen Schwachsinn gemacht, sondern gesehen haben, wie viele Muslime sich hier gegen ihre destruktiven Taten ausgesprochen haben - möge Allah ihnen wenigstens ein Quentchen Verstand schenken. Gegen halb vier setzt sich der Zug in Bewegung Richtung Place de la Nation, zwei Blocks am Gebäude der Redaktion von Charlie Hebdo vorbei. Am Morgen hatte Elsa Wolinski, die Tochter des ermordeten Karikaturisten Georges Wolinski, gesagt, sie sei sicher, die vier Zeichner hätten großen Spaß da oben im Himmel.
Wenn die vier tatsächlich von da oben gesehen haben sollten, wie viele Menschen in ihrem Namen auf die Straße gegangen sind, haben sie sicher eine Flasche Grand Cru du Paradis aufgemacht. Und dann haben sie hoffentlich weiter den Himmel mit ihren Schriften vollgekritzelt.