Schweden:Freispruch im Prozess um "Estonia"-Wrack

Schweden: 1994 wurden Teile der gesunkenen "Estonia" geborgen.

1994 wurden Teile der gesunkenen "Estonia" geborgen.

(Foto: Jaakko Avikainen/AP)

Angeklagt waren zwei Filmemacher wegen Störung der Totenruhe. Ihre Bilder hatten dafür gesorgt, dass die Katastrophe mit 852 Toten nach Jahrzehnten erneut untersucht wird.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Freispruch. Der Regisseur Henrik Evertsson und der Unterwasserfilmer Linus Andersson haben sich bei Dreharbeiten am Wrack der 1994 gesunkenen Fähre Estonia nicht der Störung der Totenruhe schuldig gemacht. Das befand am Montagvormittag ein Gericht in Göteborg.

Für ihre Schlagzeilen machende TV-Dokumentation "Estonia - der Fund der alles ändert" über den Untergang des Schiffes mit 852 Toten hatten Evertsson und Andersson im vergangenen Jahr einen der wichtigsten Journalistenpreise Schwedens erhalten. Der Film wühlte nach seiner Ausstrahlung im September die Öffentlichkeit in Estland, Finnland und Schweden auf. Vor allem aber sorgten seine neuen Bilder von einem bis dahin unbekannten vier Meter langen Riss im Wrack dafür, dass nach Jahrzehnten der Untätigkeit die Regierungen der drei Länder die Untersuchungen über die Ursache der Katastrophe wieder aufnehmen.

Sweden Finland Estonia transport accident accident

Die Bilder dieses Risses sorgten für Aufsehen.

(Foto: -/AFP)

Und dennoch hatte die Staatsanwaltschaft die Filmer für eben diese Bilder vor Gericht gestellt: Weil sie 2019 einen Tauchroboter zum Wrack geschickt hatten, mussten sie sich wegen Störung der Totenruhe verantworten. Ein Jahr nach der Katastrophe nämlich, im Jahr 1995 hatten sich mehrere Ostsee-Anrainer auf ein Gesetz geeinigt, welches das Wrack der Estonia zum Seegrab erklärt und jede Störung dort mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. "Tauchen und andere Unterwasseraktivitäten" sind laut Gesetz ausdrücklich verboten. Der Prozess in Göteborg war das erste Mal, dass das Gesetz in den 26 Jahren seines Bestehens zur Anwendung kam.

Das Gericht hatte unter anderem zu entscheiden, ob nationales schwedisches Recht internationales Seerecht schlägt. Das Wrack nämlich liegt in internationalen Gewässern. Weil Deutschland das "Gesetz über den Schutz des Grabfriedens am Passagierschiff Estonia" nie ratifiziert hatte, hatte das TV-Team für die Dreharbeiten ein deutsches Schiff gechartert. Die beiden angeklagten Journalisten argumentierten deshalb vor Gericht, das Gesetz habe nicht für sie gegolten. Das Gericht folgte dieser Argumentation: Man könne die beiden Schweden nicht bestrafen, denn sie seien "auf einem deutschen Schiff in internationalen Gewässern" unterwegs gewesen. Der Verband der Opfer und Überlebenden der Estonia-Katastrophe hatte sich hinter die Journalisten gestellt.

Nationales Trauma

Der Untergang der Estonia ist vor allem in Schweden bis heute ein nationales Trauma. 852 Menschen waren am 28. September 1994 gestorben, als die Estonia in einer stürmischen Nacht auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm unweit der finnischen Küste unterging. Nur 137 Passagiere überlebten. Für Europas zivile Schifffahrt war es die größte Katastrophe außerhalb von Kriegszeiten seit dem Untergang der Titanic. Die meisten der Opfer waren Schweden.

Angehörige und Überlebende waren nie zufrieden mit dem offiziellen Untersuchungsbericht von 1997, der als Unglücksursache fehlerhafte Scharniere und eine sich im Sturm öffnende Bugklappe benannte. Die Inspektoren der drei beteiligten Staaten hatten das Wrack am Ostseeboden nie selbst in Augenschein genommen. Die Mängel der Untersuchung gab vielen Verschwörungstheorien Auftrieb. Manche glaubten an eine Bombe an Bord, andere an einen U-Boot-Angriff. Die Tatsache, dass bisweilen offenbar Militärgüter auf der Estonia transportiert worden waren, befeuerte die Verschwörungstheoretiker.

Durch die TV-Bilder des neu entdeckten Lochs im Rumpf fühlen sich manche bestätigt in der Theorie, dem Untergang müsse ein Zusammenstoß vorangegangen sein. Andere halten dagegen, dass die von den Dokumentarfilmern entdeckten Risse auch erst nach dem Sinken des Schiffes entstanden sein könnten. Für die Angehörigenverbände aber waren sie genug Anlass, nach Ausstrahlung der Dokumentation neue Untersuchungen und Tauchgänge zu fordern.

Der schwedische Innenminister Mikael Damberg hat im Januar angekündigt, das Parlament soll noch bis Juli dieses Jahres über eine Änderung des Gesetzes über die Totenruhe am Wrack der Estonia entscheiden. Diese Änderung soll dann erstmals Tauchgänge zum Wrack erlauben. Allerdings sollen diese ausschließlich von den Behörden Schwedens, Finnlands oder Estlands durchgeführt werden dürfen, oder aber in deren Auftrag.

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