Justiz:Schwarzfahrer in Freiheit

Justiz: Die Häftlinge waren schwarzgefahren und hatten dann die Strafe nicht bezahlt.

Die Häftlinge waren schwarzgefahren und hatten dann die Strafe nicht bezahlt.

(Foto: Catherina Hess/Catherina Hess)

Tausende Menschen müssen jedes Jahr in Deutschland in Haft, weil sie ohne Fahrschein erwischt wurden und die fällige Geldstrafe nicht bezahlen konnten. 32 von ihnen sind nun entlassen worden - weil eine Initiative sie quasi freigekauft hat.

Von Marija Barišić

Seit fünf Minuten sind sie frei und rauchen erstmal. Für die vier Männer, die am Mittwoch vor der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Plötzensee stehen, ist heute ein guter Tag. Sie wurden gerade aus dem Gefängnis entlassen. Und sie sind nicht die einzigen.

Wer sich an diesem Vormittag vor den unscheinbaren Ausgang eines der ältesten Gefängnisse Deutschlands stellt, kann etwas Außergewöhnliches beobachten: Alle zehn Minuten geht die Tür auf und heraus kommt ein Mann, immer ein anderer, manchmal mit zerfleddertem Rucksack, manchmal mit zwei blauen Mülltüten in der Hand oder einem kleinen Rollkoffer, und geht die lange Straße entlang in die Freiheit. Einer der Männer legt seinen Koffer vorher noch auf den Boden, öffnet ihn, wühlt darin herum und zieht eine Winterjacke heraus. Es ist ein eisiger Tag in Berlin, die Temperatur schwankt um den Gefrierpunkt, aber der Mann trägt nur eine Jogginghose und eine dünne Weste. Er ist nicht vorbereitet. Auch die anderen vier rauchenden Männer, die schweigend im Kreis stehen und Löcher in die Luft starren, waren es nicht. Aber wie auch? Sie hätten es nicht wissen können.

32 Gefangene werden an diesem Mittwoch aus der JVA in Berlin spontan entlassen, besser gesagt: freigekauft. Zu verdanken haben sie das dem "Freiheitsfonds", einer Initiative, die seit fünf Tagen Spenden sammelt, um offene Geldstrafen von Häftlingen zu begleichen - und diese somit früher aus dem Gefängnis zu holen. Es sind Häftlinge, die alle dasselbe Schicksal eint. Jeder von ihnen ist unlängst aus demselben Grund im Gefängnis gelandet: Die Männer wurden ohne Fahrschein in Bus, Bahn oder Tram erwischt und haben die Geldstrafe hinterher nicht bezahlt.

"Dieser Paragraf ist ungerecht, entwürdigend und diskriminierend"

Tausende Menschen in Deutschland wandern jährlich genau deswegen ins Gefängnis. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Arbeitslose, um Menschen ohne festen Wohnsitz oder solche, die eine psychische Erkrankung haben, oft ist es auch eine Mischung aus allen drei Faktoren. Sie alle haben gemeinsam, dass sie zu arm sind, um sich einen Fahrschein zu kaufen, und somit auch, um die weitaus höhere Geldstrafe zu bezahlen. Aber Fahren ohne Fahrschein ist laut Paragraf 265a des Strafgesetzbuches eine Straftat, und wer weder Geld für ein Ticket, noch für die Geldstrafe hat, landet eben im Gefängnis.

Der Aktivist und Journalist Arne Semsrott möchte das ändern. Der 33-Jährige, der bei der Internetplattform "Frag den Staat" arbeitet, ist das Gesicht hinter dem "Freiheitsfonds". Er hat die Initiative als Privatperson ins Leben gerufen und steht an diesem Mittwoch auch vor der JVA, um zu erklären, worum es ihm geht. "Dieser Paragraf ist ungerecht, entwürdigend und diskriminierend, weil er vor allem Menschen ohne Geld in vielfältigen Problemlagen zusätzlich bestraft", sagt er, "ein vollkommen überzogenes, sinnloses Instrument, das wirklich niemandem hilft." Immer wieder habe er mitbekommen, dass Betroffene ihren Wohnsitz verlieren, während sie in Haft sind. Der Staat wolle beispielsweise ihr Zimmer in einem betreuten Wohnheim nicht mehr zahlen, wenn sie monatelang nicht auftauchten und als Straftäter im System aufscheinten. So kommen die Menschen, die ohnehin schon in schwierigen Verhältnissen leben, oft in noch schwierigere zurück.

Die Idee zur Initiative kam Semsrott vor einigen Jahren, den Beschluss, diese auch wirklich umzusetzen, fasste er allerdings erst während einer Recherche-Kooperation zwischen "Frag den Staat" und der ZDF Late-Night-Show des Moderators Jan Böhmermann. Dieser hatte sich in seiner Sendung vom vergangenen Freitag näher mit dem Thema befasst und auf die Initiative von Semsrott verwiesen. Die Reaktionen daraufhin seien "überwältigend" gewesen, so Semsrott. Bis jetzt hat der "Freiheitsfonds" 69 000 Euro von Privatpersonen in Freilassungen investiert. 58 Häftlinge konnten mit dem Geld freigekauft werden, sie alle saßen wegen Fahrens ohne Fahrschein im Gefängnis. Nur: Wie lange soll die Initiative denn noch gehen?

Die Initiative spricht von 727 000 Euro gespartem Steuergeld

"Solange Menschen ihr Geld überweisen, wird weiter freigekauft", sagt Semsrott. Für den Aktivisten ist das langfristige Ziel, den Paragrafen ganz abzuschaffen. Das Fahren im öffentlichen Nahverkehr solle künftig für alle Menschen kostenlos sein - das ist Semsrotts Forderung. Ob das in naher Zukunft tatsächlich der Fall sein wird? Eher unwahrscheinlich. Fakt ist jedenfalls, dass eine Gefängnisstrafe nicht nur für Häftlinge belastend ist. Auch der Steuerzahler wird dafür belangt. So hat der Freiheitsfonds berechnet, dass allein durch die 58 freigekauften Personen 727 000 Euro Steuergeld gespart werden konnte. Kritiker sprechen von etwa 150 Euro, die das Land Berlin für einen Hafttag ausgeben müsse.

Wie viele Menschen in Deutschland ins Gefängnis müssen, weil sie beim Schwarzfahren erwischt wurden, ist jedenfalls unklar. Genaue Zahlen gibt es dafür nicht. Laut "Frag den Staat" sollen es jährlich ungefähr 7000 Menschen in Deutschland sein. Der Freiheitsfonds hat also alle Hände voll zu tun.

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