Schule in Mönchengladbach:Es begann mit einem Schubser

Gewalt an Schulen

An vielen Schulen gibt es von Zeit zu Zeit Gewalt. Warum aber hörte es in Mönchengladbach nicht mehr auf?

(Foto: dpa)

Ein Lehrer, der handgreiflich wird, prügelnde Schüler und sogar Eltern, die sich daneben benehmen: Eine Gesamtschule in Mönchengladbach kommt nicht zur Ruhe. Eine Recherche zeigt: Schon vor mehr als einem Jahr gab es Hilferufe.

Von Christian Wernicke, Mönchengladbach

Die Bilder schreien. Genauso wie der hagere Kerl mit dem grauen Haarschopf, der jetzt aufgeregt durch das Video läuft. "Was glaubst du denn, wer du bist - verdammt noch mal?", schreit der Mann, während er einen Jungen im Kapuzenpulli vor sich hertreibt. Mit der rechten Hand drückt der Erwachsene den Dreizehnjährigen kurz gegen eine Tür. Der weicht aus, läuft sechs, sieben Meter hinüber zu dem Zaun, hinter dem zusammengeharktes Laub liegt.

Da packt der Mann von hinten zu: Mit beiden Armen umklammert er den Jungen, reißt ihn herum, hält ihn sekundenlang fest, ehe er ihn von sich wegschubst. Der Achtklässler stolpert, stürzt, rappelt sich wieder hoch vom Beton. Er rennt davon, der Mann läuft hinterher. Ende des Videos.

An "Jagdszenen" fühlte sich ein empörter Elternvertreter erinnert, nachdem er die 61 Sekunden lange Aufnahme gesehen hatte. Ob seine beiden Söhne wohl "morgen oder nächste Woche die nächsten sind, die über den Schulhof gehetzt werden wie Tiere?", wollte der Vater per E-Mail von der Leitung der Gesamtschule Espenstraße in Mönchengladbach wissen.

Denn hier, auf einem mausgrauen Pausenhof zwischen flachen, giftgrün angemalten Betonkästen, hat sich am Vormittag des 5. Dezembers 2018 etwas ereignet, das nicht passieren darf. Und das dennoch auch anderswo immer wieder geschieht: Ein gestresster, offenbar überforderter Lehrer verlor die Nerven, wurde handgreiflich gegenüber einem Schüler.

Der Vorfall war nur ein Vorspiel. An jenem Mittwoch sollten noch andere an der Schule ihre Selbstkontrolle verlieren.

"Espe", so nennen sie im Mönchengladbacher Süden diese Gesamtschule, die aus-sieht wie viele Lehranstalten in Deutschland: Zweigeschossige Kästen aus Beton, Glas und Metall, vor vierzig Jahren achtlos hingestellt neben hässliche Mietskasernen. Türen und Fußböden sind verschlissen, an das längst weggerostete Schulhofdach erinnern die nutzlos gewordenen Pfeiler. Die Stadt hatte kein Geld fürs Gebäude, und das Land NRW schickte nie genügend Lehrer. Draußen am Parkplatz verheißt ein buntes Schild "Vielfalt in Harmonie".

Schulverweise, Konferenzen, Vorladungen der Polizei

Fast die Hälfte der Kids spricht daheim eine andere Sprache als Deutsch, viele Eltern sind abhängig von Hartz IV. Ungefähr zur selben Zeit, da die Espe gebaut wurde, trieb der Niedergang der Textilindustrie Mönchengladbach in Armut und Verschuldung. Das Rathaus hat neulich die "soziale Belastung" seiner weiterbildenden Schulen gemessen: Die Espe landete zwar im unteren Drittel, gilt aber als "nicht auffällig". Soll heißen: Anderswo gibt's Schlimmeres.

Genau das - Schlimmeres - ist dann am 5. Dezember geschehen. Gleich nachdem der Schüler und der Lehrer aus dem Bild des Handy-Videos gelaufen waren. Hunderte haben gesehen, was passierte. Alle tuscheln, auch noch Tage später, vermischen ihre Eindrücke mit den Gerüchten, die durch die Korridore wabern - über Schulverweise und Krisenkonferenzen, über Vorladungen der Polizei.

Und alles potenziert sich via Smartphone: Videos, Textnachrichten und Hörensagen verbreiten sich in Echtzeit. Die meisten Zeugen wollen nur anonym reden, auch die Schulleitung mag sich nicht öffentlich äußern. Der Süddeutschen Zeitung sind die Namen vieler Beteiligter bekannt. Um Kinder, Eltern und Lehrer zu schützen, werden hier jedoch meist keine Klarnamen verwendet.

Die Handgreiflichkeiten des Lehrers sind kaum vorbei, da eskaliert am 5. Dezember gegen Ende der großen Pause die Gewalt.

Er schlug zu, mit beiden Fäusten

Eine herbeigeeilte Lehrerin will ihrem Kollegen helfen, als ein anderer Achtklässler sie als "Hure" und "Fotze" beschimpft. So schildern es Zeugen, und so wird es Tage später Schuldirektorin Julia Kaizik in Krisengesprächen mit den sechs Klassenstufen darstellen (wovon der SZ in einem Fall ein Mitschnitt vorliegt). Plötzlich sei da ein Zehntklässler aufgetaucht, den die Injurien seines Mitschülers empörten.

Der habe, so wird Direktorin Kaizik es später mit erstaunlich wohlwollendem Unterton beschreiben, seine Lehrerin verteidigen wollen - dazu jedoch leider das falsche Mittel gewählt: Er schlug zu, mit beiden Fäusten.

Binnen Sekunden entbrannte eine Schlägerei, die Espe erlebte eine Art Massenhysterie: Hunderte Schüler scharten sich um das Duell. Aus dieser schreienden Menge heraus, so räumt die Schulleitung ein, sei geschubst, geschlagen, gespuckt worden. Lehrer, die schlichten wollten, hätten minutenlang nicht durch die Menschentraube zu den prügelnden Schülern vordringen können. Und während sie sich mühsam ihren Weg durch die gaffenden Reihen bahnten, seien die Pädagogen Tritten und Schubsereien ausgesetzt gewesen. Als die Polizei endlich kam, war das Schlimmste bereits vorbei.

Seither steht die Espe unter Schock. Jahrelang, so schwört die Direktorin, habe man solche Probleme nicht gekannt. Beleidigungen und verbale Gewalt gegen Lehrer - ja, das gab's. Das, so beschwichtigt man auch bei der Schulaufsicht in der Bezirksregierung Düsseldorf, komme doch überall mal vor. Tatsächlich ergab eine Befragung von Lehrern im Auftrag des VBE, des Verbandes Bildung und Erziehung, im Mai 2018: Jeder vierte Lehrer in NRW (bundesweit jeder fünfte) hat in den vergangenen fünf Jahren physische Gewalt gegen sich oder einen Kollegen seiner Schule erlebt.

Der Schock an der Espe sitzt auch deshalb tief, weil es nicht aufhörte: Am 7. Dezember prügelten sich wieder Zehntklässler - und wieder sollen Dutzende Schulkameraden sie angespornt haben, nur ja ordentlich draufzuhauen. Schließlich kam Montag, der 10. Dezember. Der Tag, an dem sich - nach Lehrern und Schülern - nun auch noch Eltern danebenbenommen haben sollen.

So jedenfalls schildern es Direktorat und Schulpflegschaft. Gegen Mittag des 10. Dezembers waren die Eltern jenes Achtklässlers zur Anhörung in der Schule geladen, der fünf Tage zuvor den handgreiflichen Pädagogen gefilmt und kurz drauf die Lehrerin sexistisch beschimpft haben soll, ehe er in die Schlägerei verwickelt wurde. Der Junge galt dem Direktorat schon zuvor als Problemschüler.

Das Gespräch im Büro der Direktorin endete im Streit. Die Familie wurde durch den Hinterausgang vom Schulgelände gedrängt - und tauchte kurz darauf im Auto am Vordereingang wieder auf. Wer dann zuerst gewalttätig wurde, ist umstritten. Laut Schulleitung und Elternsprecher greift die Familie den Zehntklässler mit Reizgas an, der am 5. Dezember die Lehrerin verteidigt und sich mit dem Achtklässler geprügelt hatte.

Die Familie hingegen sieht sich als Opfer, nicht als Täter. Seit einem Streit im April auf der Heimfahrt im Bus sei der 13-jährige Sohn gehänselt und geschlagen worden. Am 10. Dezember sei man von mehreren Schülern im Auto attackiert worden - und habe sich mit Pfefferspray nur gewehrt.

"Es gab verletzte Schüler durch Reizgas, Schläge, Tritte", schildert eine Mail der Schulpflegschaft das Drama, "sechs Einsatzwagen der Polizei hatten ihre Mühe, der Situation Herr zu werden." Die Mönchengladbacher Polizei bestätigte der SZ den Einsatz. Der genaue Tathergang wird noch untersucht.

So gibt es zu viele widerstreitende Antworten auf die eine Frage: Woher dieser Ausbruch von Gewalt?

Schulleitung und Schulpflegschaft der Espe zeigen mit dem Finger auf eine Familie. Auf einen Schüler. Nur, kann ein einzelner Schüler eine gesamte Schule aufrühren und aus dem Gleichgewicht bringen? Tatsache ist, dass mindestens noch ein weiterer Junge - jener Achtklässler, der auf dem Video vom Lehrer attackiert wird - sich seit April ausgegrenzt und verfolgt fühlte. Die Schulleitung will davon bis Mitte Dezember nichts gewusst haben.

Ein Lehrer wurde vorerst freigestellt

Schon im Herbst 2017 hatten die Elternsprecher der Espe den Schulalltag als "Albtraum" beschrien. "Die Lehrer kriechen auf dem Zahnfleisch," heißt es in einer Petition an den nordrhein-westfälischen Landtag über Lehrermangel und chronischen Unterrichtsausfall: "Lassen Sie unsere Kinder nicht im Regen stehen."

Laut Statistik des NRW-Bildungsministeriums sind die Planstellen zwar zu 99 Prozent besetzt. Aber das Kollegium ist jung, weshalb öfter Lehrer fehlen, die gerade selbst Eltern werden. Die Espe meldet Erfolge: Voriges Jahr schafften hier zum Beispiel 17 Kinder das Abitur, denen nach der Grundschule maximal ein Hauptschulabschluss zugetraut worden war. Auf Dauer jedoch, so belegen Studien etwa der Ruhr-Universität Bochum, bräuchten Problemschulen wie die Espe deutlich mehr Personal: Sonst sei wirkliche Chancengleichheit für Schüler aus sozial benachteiligten Familien unmöglich.

Schnell wird die Veränderung nicht gehen an der Espe. Die Schulleitung hat einen Lehrer vorerst freigestellt. Man schwört, alles aufarbeiten zu wollen. Vorsorglich hat Direktorin Kaizik ihre Schüler neulich belehrt, dass auch Lehrer nur Menschen seien: Wenn man die reize, dann komme eben irgendwann eine Reaktion. Die Bezirksregierung Düsseldorf sagt auf Anfrage, die Schulleitung habe "sehr professionell" reagiert: "Eine Gefährdung für die Schüler/innen besteht nicht."

Fragen nach den generellen Zuständen an der Espenstraße weist die Schulauf-sicht zurück: "Die Personalausstattung bzw. die räumliche Situation steht in kei-nem Zusammenhang mit dem Vorfall."

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