Süddeutsche Zeitung

"Schneechaos-Kinder":Babyboom nach Stromausfall

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250.000 Münsterländer waren im vergangenen November tagelang ohne Strom, Schneemassen hatten das Netz zusammenbrechen lassen. Jetzt, genau neun Monate später, melden Krankenhäuser überdurchschnittlich viele Geburten.

Ganz zärtlich hält Alice Dircks ihren Sohn im Arm. Der kleine Paul-Hugo ist erst wenige Stunden auf der Welt und der ganze Stolz der 35-jährigen Mutter. "Paul-Hugo ist mein erstes Kind, ich freue mich wirklich sehr" erzählt sie strahlend. Vor neun Monaten habe sie es sich mit ihrem Mann zu Hause in Rheine gemütlich gemacht - genau zu dem Zeitpunkt, als das verheerende Schneechaos über das Münsterland hereinbrach.

Das Ergebnis der stromfreien Tage zeigt sich derzeit auf den Entbindungsstationen der Krankenhäuser. 250.000 Menschen in den Kreisen Steinfurt, Borken und Coesfeld waren im November tagelang ohne Strom. Bei Kerzen und Kaminfeuern rückten sie offenbar eng zusammen: Einige Krankenhäuser und Standesämter im Münsterland melden derzeit deutlich mehr Geburten als sonst.

"Dann kann man sich ja vorstellen, was man macht"

Bei der Schwangerschaft von Alice Dircks habe das Wetterchaos durchaus Pate gestanden: "Ich kam von einer Dienstreise und hatte meinen Mann drei Wochen lang nicht gesehen," erzählt die junge Mutter. Wegen des Schneetobens hätten die beiden nichts unternehmen können. "Dann kann man sich ja vorstellen, was man macht."

Andere Paare im Münsterland dachten offenbar ähnlich. In der Kreisstadt Steinfurt wird im September mit deutlich mehr Entbindungen gerechnet: "Wir haben monatlich etwa 50 Geburten. In den nächsten Wochen werden es wahrscheinlich 65 sein. Das lag wohl am Stromausfall", sagt Standesbeamtin Gudrun Frahling.

Größter Baby-Zuwachs seit acht Jahren

Einen vergleichbaren Baby-Zuwachs habe es in den vergangenen acht Jahren nicht gegeben. In Zeiten sicherer Verhütungsmittel und moderner Familienplanung sei eine solche Entwicklung natürlich ungewöhnlich. "Aber vielleicht haben sie die Dinger im Dunkeln ja nicht gefunden", sagt die Standesbeamtin schmunzelnd. Auch im Krankenhaus von Ahaus (Kreis Borken) sprechen die Mitarbeiter schon von "Schneechaos-Kindern".

In Gronau, Borken, Laer und Coesfeld hingegen sind die Geburtenzahlen im Vergleich zu anderen Jahren eher zurückgegangen, melden Krankenhäuser und Standesämter. Mehr Geburten seien auch in den nächsten Wochen nicht zu erwarten. "Dass ein Stromausfall neun Monate später zum einem Babyboom führt, ist vielleicht auch ein bisschen weit hergeholt", sagt die Coesfelder Standesbeamtin Marianna Wiesmann und wiegelt ab.

Positives Ergebnis einer unschönen Erinnerung

Noch mehr Zweifel hat Stephan Schonhoven, Sprecher des Marienhospitals Steinfurt. "Ich bin sehr skeptisch, dass bei eisiger Kälte und ohne Lebensmittel überhaupt die richtige Lust aufkommt." Für eine Schwangerschaft müssten zahlreiche Faktoren stimmen. "Eine Befruchtung klappt nicht so einfach. Oder soll der Stromausfall jetzt auch noch den Eisprung der Frau ausgelöst haben?" merkt Schonhoven ironisch an.

In den USA scheiden sich bis heute die Geister, ob der große Blackout in den sechziger Jahren in New York und anderen großen Städten des Nordostens zu einem Babyboom geführt hat oder nicht.

Der gleichen Diskussion im Münsterland steht Stromversorger RWE Westfalen-Weser-Ems, dessen Masten im November zusammenbrachen, ganz neutral gegenüber: "Die Menschen hatten eine schwierige Zeit. Wenn jetzt dort mehr Kinder geboren werden, ist das doch ein positives Ergebnis einer unschönen Erinnerung", sagt Pressesprecher Klaus Schultebraucks.

Nach Angaben der Krankenhäuser kann eine Schwangerschaft bis zu zehn Monate nach der Befruchtung dauern. Bis Ende September könnten also noch weitere "Schneechaos-Kinder" im Münsterland das Licht der Welt erblicken. Wer danach geboren wird, hat mit dem Stromausfall nun wirklich nichts mehr zu tun - die Freude der Eltern wird deswegen aber nicht kleiner.

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dpa
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