Angegriffener Bürgermeister:Die Gehirnerschütterung heilt, die Angst bleibt

Angegriffener Bürgermeister: Oersdorf liegt 40 Kilometer nördlich von Hamburg und hat 874 Einwohner. Joachim Kebschull ist hier seit drei Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister.

Oersdorf liegt 40 Kilometer nördlich von Hamburg und hat 874 Einwohner. Joachim Kebschull ist hier seit drei Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister.

(Foto: Heike Hiltrop)

Joachim Kebschull ist Bürgermeister in der schleswig-holsteinischen Provinz. Nachdem er beginnt, über eine Flüchtlingsunterkunft nachzudenken, wird er brutal niedergeschlagen. Noch immer ist der Täter nicht gefasst.

Von Peter Burghardt, Oersdorf

Die Tür zum Gemeindehaus von Oersdorf ist von innen verschlossen. Der Bürgermeister Joachim Kebschull muss sie erst aufsperren, als sein Gast geklingelt und er durchs Fenster hinausgeschaut hat. Früher, vor dem Angriff, hätte man einfach hineingehen können. Was sollte schon passieren in diesem Dorf? Seit jenem Abend steht der Klinkerbau nicht mehr einfach offen, auch nicht die Hauptverwaltung im Amt Kisdorf ein paar Kilometer entfernt. Briefe werden anders geöffnet als vorher, die Mailadresse wurde geändert, die Polizei dreht öfter die Runde. "Mit den Folgen umzugehen ist schwieriger, als ich dachte", sagt Kebschull. "Man kann das nicht einfach abhaken."

Er sitzt jetzt an einem Tisch und erzählt, wie ihn als Provinzpolitiker die Gewalt erfasst hat, der Hass. Wie das Vertrauen einer diffusen Angst wich. Einst war die Schule in diesem Gebäude untergebracht und dieser Raum sein Klassenzimmer, Joachim Kebschull hat sein ganzes Leben in der Gegend verbracht. Inzwischen ist er 61 Jahre alt und für eine unabhängige Wählergemeinschaft seit 2013 ehrenamtlicher Bürgermeister von Oersdorf in Schleswig-Holstein. 874 Einwohner, 40 Kilometer nördlich von Hamburg nahe der Autobahn A 7 gelegen. Von Beruf ist der Ingenieur selbständiger EDV-Berater und Geschäftsführer zweier Waldorf-Kindergärten, ein hochgewachsener, nachdenklicher und ruhiger Mann. Man kann sich stundenlang mit ihm über die aufgeheizte Stimmung in der Welt unterhalten. Das betrifft ihn ja nun sehr persönlich.

Vor einer Sitzung des Bauausschusses ging eine Bombendrohung ein

Es begann, als Joachim Kebschull und seine Kollegen im Sommer anregten, den alten Backsteinbau nebenan sanieren zu lassen. Genützt werden könnten die neuen Wohnungen dann bei Bedarf für eine Flüchtlingsfamilie und für ältere Anwohner, denen ihre Häuser zu groß geworden sind. In der Umgebung würden mit Schutzsuchenden und Freiwilligen doch beste Erfahrungen gemacht, man könne und wolle helfen. "Wir hatten ein gutes Gefühl", sagt Kebschull. Bislang blieb es bei den Plänen. Auch kamen bisher keine Anfragen, Zuwanderer unterzubringen. Stattdessen zog der Schrecken in Oersdorf ein.

Erst waren es anonyme Mails und Briefe. Darin fanden sich Botschaften wie "Oersdorf den Oersdorfern" oder "Wir wollen keine Flüchtlinge, Asylanten, Muslime, Terroristen". Oft wurde die Gemeindeführung auch konkret bedroht, vor allem er, der nebenberufliche Bürgermeister Kebschull. Manche der Schreiben landeten sogar ohne Postboten in seinem privaten Briefkasten daheim, was sie noch unheimlicher machte. Der Autor oder die Autorin scheint sehr genau zu wissen, wer er ist, wo er wohnt, was er tut und was in Oersdorf wann geschieht. Vor einer geplanten Sitzung des Bauausschusses im Juli ging dann eine Bombendrohung im Rathaus ein. Der Absender nannte sich "american sniper", das Treffen wurde vorsichtshalber abgesagt. Vier Wochen später folgte die nächste Bombendrohung, die Polizei kam mit Spürhunden, der Staatsschutz schaltete sich ein. Ende September sicherten schließlich Uniformierte und Kripo-Beamte die Versammlung. Dennoch geschah es.

Joachim Kebschull hatte sein Notebook vergessen und fuhr schnell die paar Hundert Meter nach Hause, um den Laptop zu holen. Es regnete in Strömen. Als er auf dem Parkplatz hinter dem Gemeindehaus aus dem Auto gestiegen war, traf ihn dieser Schlag. Ein Unbekannter schlug ihm mit einem Knüppel oder einem Kantholz auf den Hinterkopf, obwohl gleich um die Ecke Polizisten wachten. Ein Kollege fand den bewusstlosen Kebschull, er wurde ins Krankenhaus gefahren, Diagnose Schädel-Hirn-Trauma. Der Bauausschuss tagte ohne ihn, man wollte sich nicht unterkriegen lassen. Doch das Grauen geht weiter.

Kurz nach der Attacke ging eine weitere Drohung ein, im Telegrammstil, offenbar abgeschickt über einen österreichischen Provider. "wer jetzt noch immer nicht hören will, wird bestimmt lieber fühlen", stand in einer Mail an die Gemeinde. "aus knüppel wird hammer, aus hammer wird axt. Wer illegale unterstützen will, macht sich strafbar. Das urteil wurde gesprochen. auf bewährung . . ."

Fahndung nach einem Phantom

Wer steckt dahinter? Die Behörden ermitteln in alle Richtungen, wie es immer heißt. Joachim Kebschull musste den Kriminalisten sein Leben öffnen, Privates und Protokolle erläutern. Gesucht wird nach einer Spur und einem Motiv. Angesichts der Schriftstücke ist ein ausländerfeindlicher Hintergrund sehr wahrscheinlich, obwohl Kebschull auch rätselt, ob es andere Gründe geben könnte. Einen Verdacht hat er nicht, gefahndet wird nach einem Phantom. Es trägt für das Opfer keineswegs zur Beruhigung bei, dass der Täter oder die Täterin angesichts des Insiderwissens wohl aus Oersdorf oder der Nähe stammt und ihm vermutlich immer wieder begegnet.

Die Gehirnerschütterung war schnell überstanden. Die seelischen Wunden gehen tiefer. "Das berührt und verändert einen", sagt Joachim Kebschull. "Man verliert seine Unschuld. Man kann nicht die Erase-Taste drücken." Man wird vorsichtiger, abwartender, misstrauischer, obwohl sich Kebschull bemüht, ein leutseliger Mensch zu bleiben. Auch sind Misstrauen und Verdacht im sonst so unauffälligen Oersdorf eingezogen. Man kennt ja noch nicht mal den Namen des Schreibers und Schlägers, und die Enttarnung könnte auch sehr unangenehm sein. Aus welcher Familie stammt er oder sie?

Kebschull will nicht aufgeben

Es geht um ein ungeklärtes Verbrechen, Drohungen und Körperverletzung können mit Haftstrafen geahndet werden. Der Familienvater Kebschull ist auf einmal einer von vielen Betroffenen mutmaßlich politischer Gewalt. Schon beschweren sich Einwohner, dass ihr Oersdorf in die rechte Ecke gedrängt werde, auch Kebschull schmerzt das. Es gebe hier keine braune Szene, glaubt er. Andererseits fällt ihm auf, dass der Ton auch im sonst so stillen Oersdorf aggressiver geworden ist. Dabei habe er persönlich von einem Umbau des umstrittenen Hauses oder anderen Maßnahmen gar nichts. Er ist nichts weiter als gewählter Bürgermeister im Ehrenamt, für lächerliche 560 Euro im Monat.

Es macht ihm Sorgen, dass Parolen und Abgrenzung wieder salonfähig zu werden scheinen, in der großen Welt und im kleinen Beritt, genährt aus nah und fern. Er erinnert an den Ausspruch des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, man werde sich "bis zur letzten Patrone" gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren. Solche Sätze klingen für ihn nun erst recht bedrohlich, seit er niedergeschlagen wurde. Auch wenn niemand weiß, wer ihn da warum so verletzt hat.

Joachim Kebschull trägt Vollbart, Strickjacke und Hemd. Auf dem Fensterbrett stehen Topfpflanzen, draußen sieht man ein rötliches Haus hinter grünem Zaun. Es wirkt alles so bodenständig und friedlich und ist es gewöhnlich wohl auch. Kebschull kann sich nicht vorstellen, dass der Angreifer ihn umbringen wollte. Es wäre ja gegangen, als er am Boden lag. Aber natürlich fragt er sich zuweilen, was passiert wäre, wenn er unglücklich gestürzt wäre.

Ein paar Wochen lang hat sich der Bürgermeister nach dem Attentat zurückgezogen, zwischendurch gab er eine Pressekonferenz. Aufgeben will er nicht. Bald trifft sich wieder der Oersdorfer Bauausschuss.

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