San Francisco und die Angst:Spannungen mit Todesfolge

Weil Seismologen Schlimmstes vorhersagen, rüstet sich die Stadt. Am Jahrestag des großen Bebens von 1906 schwanken viele Bürger allerdings zwischen Risikobereitschaft und Gleichgültigkeit.

Christian Wernicke

Man muss suchen, wenigstens einen Augenblick lang, und sehr genau hinschauen, um das Zeichen im Asphalt zu erkennen. Wer keinen Schimmer hat, was sich hier tut tief unter dem öden Parkplatz an der A-Street von Hayward, der wird die feine, gekräuselte Linie im Teer von San Franciscos Vorstadt glatt übersehen und den kleinen Makel nicht als Menetekel begreifen, sondern abtun als Schlamperei der Bauarbeiter. Oder als ein Souvenir des letzten Sommers missdeuten, da die Hitze überall in Kalifornien den Straßenbelag aufweichte.

San Francisco und die Angst: Der Seismologe David Schwartz deutet auf die Hayward-Verwerfung in der Bay Area von San Francisco.

Der Seismologe David Schwartz deutet auf die Hayward-Verwerfung in der Bay Area von San Francisco.

(Foto: Foto: dpa)

Aus dem fingerdünnen Riss sprießt hier und da etwas Grün, so als wolle sich die Natur zurückmelden. Ein paar Kiesel haben sich gelöst, mehr nicht. Einen halben Zentimeter reicht der Spalt in die Erde, kein Passant muss fürchten, darüber zu stolpern.

So banal, so unscheinbar sieht sie also aus, die Hayward-Falte. Noch. "Sei bloß vorsichtig", sagt David Schwartz und grinst, "es kann passieren, während du da rumstehst."

Auf seiner blauen Fleecejacke steht in weißen Lettern: "Science for a changing world". Aber für dieses in seinem Job leicht makabre Logo kann er nun wirklich nichts. Sein Dienstherr hat es sich ausgedacht. Der Seismologe Schwartz arbeitet beim U.S. Geological Survey (USGS), der für Erdbebenanalysen zuständigen US-Bundesbehörde.

Anno 1868

Das letzte Mal geschah "es" an dieser Stelle anno 1868. Vor 138 Jahren also. "Damals war das hier Weideland, ein paar Bauernhöfe, mehr gab es kaum", erzählt David Schwartz, unser freundlich-knurriger Fremdenführer.

Das mächtige Beben versetzte seinerzeit die ganze Gegend in Angst und Schrecken, es wütete auch drüben am Westufer der Bay, wo sich eine junge Stadt namens San Francisco gerade anschickte, zum "Paris des Westens" aufzusteigen.

Pulverfass

Heute siedeln in derselben Großregion knapp sieben Millionen Menschen, allein in Haywards meist biederen Einfamilienhäusern leben mehr als 120.000 Menschen - nach Davids Meinung allesamt auf einem Pulverfass. "Wir wissen, dass sich die Erde hier alle 140 bis 150 Jahre bewegt", sagt er und rückt seine Brille zurecht, "Hayward ist wieder fällig."

Spannungen mit Todesfolge

Diesmal huscht kein Lächeln über das Gesicht des 61-jährigen Graubarts: "Es wird schrecklich werden, die meisten ahnen es nicht einmal." Sein halbes Leben hat David Schwartz dem Studium der Hayward-Falte gewidmet.

San Francisco und die Angst: Ein Teil der zerstörten Bay-Bridge nach dem Beben am 17. Oktober 1989.

Ein Teil der zerstörten Bay-Bridge nach dem Beben am 17. Oktober 1989.

(Foto: Foto: AP)

Denn hier unten schlummert, mehr noch als im berüchtigten San-Andreas-Graben, die nächste Gefahr. Weil er lieber draußen im Feld forscht als im klimatisierten Büro des USGS, kennt David die Leute, die freiwillig auf des Messers Schneide mit Mutter Erde leben: "Risiko ist Teil ihres Lebensstils, nicht mal zwölf Prozent von denen haben ihr Haus richtig versichert."

Das klingt zynisch, weshalb er schnell anfügt: "Sie verdrängen es einfach, es gibt ja so viel, worüber du dir den Kopf zerbrichst: Terrorismus, Vogelgrippe, das Bankkonto..." Der Beweis folgt sogleich. Einer verdutzten Passantin, die gerade über die "Fault-Line" eilt, entfährt ein schriller Schrei, als man ihr den Haarriss im Beton des Bürgersteigs zeigt: "Oh my God!"

Seine Kollegen rühmen Schwartz als den Experten für diesen Graben, der leise, unsichtbar und bis zu zwölf Kilometer tief entlang des Ostufers der San Francisco Bay langsam aufreißt. "Genau genommen sind es neun Millimeter pro Jahr", doziert Schwartz, "doch von denen siehst du an der Oberfläche nur vier Millimeter."

Eine halbe Stiefelspitze

Vier Millimeter, das macht in fünf Jahren zwei Zentimeter. Eine halbe Stiefelspitze, etwa so breit ist der seltsame Sprung im Bordstein, auf den David jetzt mit seinem rechten Fuß zeigt: "Du siehst, die Erde lebt."

Wie sehr, das werden sie in Kalifornien zu spüren bekommen. Wann das sein wird, weiß niemand. Auf 62 Prozent schätzen Geologen die Wahrscheinlichkeit, dass San Francisco bis zum Jahr 2032 von einem Beben mit einer Mindeststärke von 6.7 heimgesucht wird.

Je länger "The Big One", der Riesenschlag, auf sich warten lässt, desto schlimmer könnte er werden: Jeden Tag wächst der "tektonische Stress", jeden Monat lädt die Erdkruste hier, wo sich die pazifische und die nordamerikanische Erdplatte seit Millionen Jahren aneinander reiben, mehr Spannung auf.

Überdehntes Gummiband

Es ist im Grunde wie bei einem überdehnten Gummiband: Am Ende reißt es, und der aufgestaute Druck entlädt sich in einem einzigen Ruck. "Nach unseren Berechnungen wird es am ehesten hier passieren", sagt Schwartz, "die Hayward-Linie ist die schwächste aller Bruchlinien in der Gegend."

Wenn "es" vorbei sein wird, so Schwartzens Malerei, "werden alle fürchterlich überrascht sein, und die Bruchkanten dieses Bordsteins werden zwei Meter auseinander klaffen."

Das wäre dann der endgültige Tod für Alma's Creations, den verrammelten Blumenladen auf der A-Street-mit dem Schaufenster voll weißer, angewelkter Nelken. Der Sperrholzbau steht exakt auf der Kante, halb Pazifik, halb Amerika also, genauso wie weiter hinten das alte Art-Deco-Rathaus, das die Stadtväter schon vor Jahren wehmütig räumen mussten und bis heute nicht abreißen mögen.

Spannungen mit Todesfolge

"Buon Appetito", der kleine Italiener, fiele ebenso in sich zusammen wie nebenan die Klitsche eines Schildermalers: Die Wände dieses brüchigen Flachbaus werden schon heute nur notdürftig von Stahlstreben und dicken Bolzen verklammert. Hayward, an diesem verregneten Nachmittag eh ein seelenloser Ort, wäre dahin. Als Trümmerwüste würde die Vorstadt etliche hundert Menschen unter sich begraben.

Und natürlich zöge das Beben weiter, vor allem nach Westen. Wie auf dem Fell einer riesigen Trommel würden sich die Erdschläge über dem schlammigen Grund der Bay verstärken, ehe die irdischen Druckwellen den Hafen von San Francisco erreichten.

Wie nasse Pappschachteln

Was dann passiert, das haben sie beim USGS soeben in einer Computer-Simulation durchgespielt: Auf und nieder wallt sich der Boden, die Metropole schwankt wie eine Nussschale auf den Wogen des Ozeans. Man ahnt, wie derweil Häuser zerbersten, Straßen aufreißen und Brücken einknicken wie nasse Pappschachteln.

Die Stadt auf dem Hügel würde ins Chaos stürzen und ohne Strom, Telefon oder Internet binnen Sekunden vom Rest der Welt abgeschnitten werden. "Wirtschaftlich wäre es ein globales Beben", glaubt David Schwartz, "Die Banken, der Handel, die ganze Computerindustrie im Silicon Valley - alles läge brach."

Die blutrote Zone

Das Szenario eines Hayward-Bebens gilt den USGS-Experten freilich als vergleichsweise glimpfliche Variante. Weit fataler ist ihr digitales 3-D-Revival mit der Ziffer 1906: Binnen dreißig Sekunden taucht der PC die Stadt in ein grelles Farbenmeer. Kleine Flecken bleiben blau oder gelb, das sind jene glücklichen Viertel, die auf hartem Fels ruhen. Der Rest jedoch verwandelt sich auf dem Laptop zur blutroten Zone, zum Katastrophengebiet.

Ein neues 1906, auch das ist möglich. Den Geologen gilt dies, gleich nach dem potenziellen Desaster entlang der Hayward-Linie - sogar als zweitwahrscheinlichster und größtmöglicher Horror: Dass sich also wieder, wie vor hundert Jahren, vier Meilen vor der Küste der San-Andreas-Graben aufwölbt.

Die totalitärste Heimsuchung der Natur

"Wir sind vorbereitet", versichert Joanne Hayes-White, die Chefin der städtischen Feuerwehr, "wir haben ein ausgeklügeltes Hilfssystem aufgebaut." Nur, was nützt selbst "einer der besten Notfallpläne der Nation" gegen die totalitärste Heimsuchung der Natur?

Sehr wenig, wie eine Studie offenbart, die San Franciscos Offizielle zum 100-jährigen Gedenken an Untergang und Wiederaufbau ihrer Stadt gerade veröffentlicht haben. Dem Beben im Morgengrauen des 18. April 1906 und dem "Großen Feuer", das danach drei Tage und Nächte lang wütete, fielen damals 3000 Menschen zum Opfer. 28.000 zerstörte Gebäude, mehr als 200.000 Obdachlose.

Und 2006? Die Zahlen sähen ähnlich aus: Ein erneutes Beben der Stärke 7,9 auf der modernen MMI-Skala (Modified Mercali Intensity) würde circa 45.000 Häuser vernichten, und 250.000 Familien müssten die Stadt verlassen. Zudem befürchtet der Zivilschutz-Experte Jeff Lusk "etwa 14.000 Opfer, darunter 3000 bis 5000 Tote."

72 Stunden ohne Wasser, Gas oder Strom

Am schlimmsten wären, genau wie damals, die ersten drei Tage danach. "Wir warnen alle Bürger, dass sie sich wenigstens 72 Stunden lang selbst helfen müssen", sagt Fire Chief Hayes-White, "ohne Wasser, Gas oder Strom."

Spannungen mit Todesfolge

Diese Botschaft, das gibt sie zu, predigt sie noch lauter, seitdem sie vorigen September im Fernsehen mit ansah, wie New Orleans in den Fluten versank. "Katrina", das ist in den USA seither mehr als nur der Name eines Hurrikans. Für die Amerikaner definieren die drei Silben ein neues Maß: eine Naturkatastrophe mit mehr als tausend Toten, mitverschuldet durch das skandalöse Totalversagen von Vater Staat.

Wie unten im Süden am Mississippi würde der ganz andere irdische Fluch an der Bay am härtesten in den ärmsten Quartieren zuschlagen. Hier stehen drei- bis fünfstöckige Mietshäuser, hochgezogen lange bevor in den 70-er Jahren Kaliforniens strenge Schutzvorschriften in Kraft traten.

Soziales Erdbeben

Oft sind diese Gemäuer auf Sand gebaut - auf losem Schwemmland, das die Erdwellen noch potenzieren würde. Sobald die Erde wieder Ruhe gäbe, dürfte ein soziales Erdbeben San Francisco erschüttern: Spekulanten würden die Trümmer beiseite räumen-und mit ihnen Schwarze und Latinos aus der Stadt transportieren.

So ähnlich hatte man es schon 1906 versucht, vergeblich. Das Ansinnen, das Viertel der chinesischen Tagelöhner auszulöschen, scheiterte. Chinatown wurde wieder aufgebaut.

Beispiellose Kampagne

Den politischen Mut, die Hausbesitzer mit Auflagen zu mehr Vorsorge zu zwingen, mag die Stadtverwaltung nicht aufbringen. Es scheint, als wolle man anders vorbauen in San Franciscos City Hall. Die Stadtoberen, die vor hundert Jahren einen Phoenix zum Wappentier kürten, nennen es Prävention und haben eine beispiellose Kampagne losgetreten: Wenigstens eine Million Menschen soll lernen, sich notfalls selbst aus Schutt und Asche zu befreien.

Erste-Hilfe-Kurse laufen an. Fernsehen, Rundfunk und Hunderttausende Broschüren beschreiben exakt, was es braucht zum Überleben in der Stunde Null, wenn die Uhr abgelaufen ist drüben in Hayward: eine Gallone Wasser pro Tag und Kopf, jede Menge Konserven (samt Dosenöffner), Windeln für die Kleinen, Futter für den Hund, Tabak für die Sucht.

Noch nichts eingekauft

Doch viele hören gar nicht hin. Und wer hinhört, tut selten etwas. "Ja, ich kenne die Liste", sagt eine Mutter von fünf Kindern im Schatten des Rathauses. Tapfer zählt sie alles auf, von der Arznei bis zu den Zigaretten, um dann doch zu gestehen: "Nein, eingekauft habe ich davon noch nichts."

Dabei wissen sie doch, was auf sie zukommt. 1989 hatte ihnen die Natur die letzte Warnung geschickt: Dass damals beim Loma-Prieta-Beben nur 63 Menschen umkamen, war reines Glück. Weil seinerzeit ein Baseballspiel im Fernsehen lief, waren die meisten Pendler schon vor der üblichen Rushhour nach Hause gefahren - und dem Desaster um kurz nach fünf Uhr nachmittags knapp entkommen.

David Schwartz, der Seismologe, denkt fast täglich an diesen Moment zurück: "Das fällt mir ein, wenn ich im Stau auf der Bay-Bridge über jene Betonplatte fahre, die damals aus der Brücke brach." Das Bild ging um die Welt. Erst jetzt haben die Behörden begonnen, die fragile Lebensader der Stadt zu sanieren. Frühestens 2011 wird die neue, sichere Brücke fertig sein: "Ursprünglich war mal von 2004 die Rede."

Nur drei Fuß verbraucht

Manchmal treiben Davids Gedanken noch weiter in die Tiefe. Hinunter ins Wasser, wo San Franciscos U-Bahn durch den Tunnel rüber nach Oakland rast. Als sie den bauten, hatten die Architekten sehr wohl im Hinterkopf, wie lebendig das Erdreich hier ist. Die Hayward-Linie, der San-Andreas-Graben - alles im Plan, per Sicherheitsmarge von sechs Fuß Seitenabweichung. Nur, drei davon sind bereits verbraucht.

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