Russland:Vom Bau zum Bau

Russland: Vor etwa 90 Jahren mussten Zwangsarbeiter in der Sowjetunion Bahnstrecken bauen. Jetzt sollen Strafgefangene in Russland wieder für den Ausbau der Infrastruktur eingesetzt werden.

Vor etwa 90 Jahren mussten Zwangsarbeiter in der Sowjetunion Bahnstrecken bauen. Jetzt sollen Strafgefangene in Russland wieder für den Ausbau der Infrastruktur eingesetzt werden.

(Foto: Igor Golovnov/Mauritius Images / Alamy)

Strafgefangene sollen bei der Modernisierung einer Zugstrecke in Sibirien helfen, um den Mangel an Arbeitern auszugleichen. Die angebotene Zwangsarbeit ist umstritten.

Von Frank Nienhuysen

Die Opfer sind noch nicht vergessen, die Qualen, das Schuften, die Arbeit in klimatischen Todeszonen: sibirische Hitze im Sommer, sibirische Kälte im Winter. In Russland wird gerade wieder darüber gesprochen.

Es ist lange her, etwa 90 Jahre, dass in der Sowjetunion Zwangsarbeiter aus Straflagern in Minen und an Bahnstrecken für den Aufbau des Kommunismus und seiner Infrastruktur eingespannt wurden. Für viele Tausende von ihnen war es ein tödlicher Einsatz. Zu einem Symbol für diese Zeit der Stalin-Epoche wurde die knapp 4000 Kilometer lange Eisenbahnlinie Baikal-Amur-Magistrale (BAM). Sie zweigt in Ostsibirien von der Transsib ab, touchiert den Baikalsee und führt im russischen Fernen Osten bis an die Pazifikküste. Die Gegend ist jetzt wieder eine Baustelle. Die Strecke soll modernisiert werden, ein zweiter Strang soll entstehen, damit der Export von Kohle aus den Revieren in Jakutien vergrößert werden kann. Wer aber wird dort bauen?

Der Baubranche fehlen Arbeiter

Es gebe einen großen Mangel an Arbeitskräften, sagte Alexander Tschernojarow, Generaldirektor von Bamstrojmechanisazia, einem der beteiligten Unternehmen. Bisher haben russische Firmen gut davon gelebt, dass ausländische Wanderarbeiter kräftig anpackten. Die meisten kamen aus Zentralasien oder aus dem Kaukasus. Aber seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Lage grundlegend geändert. Viele Arbeiter sind in ihre Heimat gegangen, aber nicht wieder zurückgekommen, wegen der Reiseeinschränkungen. Die Baubranche leidet. Denn das knappe Gut Arbeitskraft hat Baukosten und Gehälter gleichzeitig steigen lassen. Jetzt sollen russische Strafgefangene abhelfen.

Die russische Strafvollzugsbehörde FSIN hat sich bereit erklärt, dass Häftlinge bei der Ausweitung und Modernisierung der BAM eingesetzt werden. Von knapp einer halben Million Gefangener in Russland hätten 188 000 das Recht, die Umwandlung ihrer Gefängnisstrafe in Zwangsarbeit zu beantragen, sagte der FSIN-Direktor Alexander Kalaschnikow. Wie viele Arbeiter exakt für die BAM benötigt werden, ist noch unklar. Noch im Juni ist der Baubeginn geplant, die ersten 600 Sträflinge könnten nach einem Bericht von Kommersant in den nächsten zwei Wochen anfangen. Der Einsatz werde freiwillig und nur für physisch gesunde Häftlinge sein, die nicht wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurden und die auch nicht zur Flucht geneigt seien. Und er machte deutlich: "Das wird kein Gulag sein."

Kritiker erinnern an den Gulag der Stalin-Zeit

Gulag - das ist die schaurige Abkürzung des berüchtigten Straf- und Arbeitslagersystems der Sowjetzeit, ausführlich beschrieben von Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn im Werk "Archipel Gulag". Mit der Vorstellung einer solchen Parallele will FSIN-Chef Kalaschnikow jedoch aufräumen. Die Arbeiter würden unter "würdigen Bedingungen" eingesetzt, vernünftig wohnen und ein Gehalt bekommen.

Die Sichtweisen auf das neue Projekt sind sehr verschieden. Die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina sagte der Agentur Bloomberg: "Sollte es so kommen, habe ich keinen Zweifel, dass es eine schlechtbezahlte Zwangsarbeit sein wird." Ihr Kollege Lew Ponomarjow sagte der Zeitung Moskowski Komsomolez, dass auf den Baustellen "Mini-Strafkolonien" entstünden, "in denen dann ein System aus Gewalt und illegalen Abgaben blühen wird". Er sprach von einer "sehr gefährlichen Initiative". Ein Häftling namens Artjom Gusjuk sagte der Zeitung dagegen, er würde "mit Freude als Bulldozerfahrer arbeiten", weil er schon seit Jahren einsitze und die Tage im Gefängnis trostlos und langweilig seien. Er sei allerdings wegen Totschlags verurteilt und komme für die Arbeit an der Zugstrecke wohl nicht in Frage.

Häftlingsarbeit also als lukratives Finanzmodell für Unternehmen? Kritiker weisen darauf hin, dass mit dem Einsatz von Gefangenen andere Kosten entstünden, etwa für eine neue Form der Bewachung außerhalb der Haftanstalten. Viele seien auch einfach nicht qualifiziert für bestimmte Arbeiten. Ob all dies nun an alte finstere Zeiten unter Stalin erinnern könnte, spielt für die meisten Menschen im Land offensichtlich keine Rolle. Bei einer Umfrage des staatlichen Umfrageinstituts Wziom waren 71 Prozent dafür, Arbeitsmigranten durch Häftlinge zu ersetzen. Russische Medien berichteten, dass der Gouverneur des Gebiets Magadan bereits vorgeschlagen habe, Strafgefangene in den Goldminen arbeiten zu lassen. Der Justizminister Konstantin Tschuitschenko wiederum denkt über Arbeitseinsätze in der Arktis nach. Russland ist groß.

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