Russland:Roter Platz, grüner Platz

Zum ersten Mal seit 70 Jahren hat im Zentrum der russischen Hauptstadt ein neuer, großer Park eröffnet. Manche Moskauer lieben ihn, andere kritisieren ihn als "weitere sakrale Konstruktion" gleich neben dem Kreml.

Von Frank Nienhuysen, Moskau

An Birken hat es in Russland auch in Zeiten größter Mängel nie gefehlt; das kleine, blaue Schild zu Füßen der jungen Bäumchen ist deshalb ein ungewöhnlich sensibler Appell: "Wir sind zum Spielen noch nicht bereit, wir müssen erst Wurzeln schlagen." Zarte, schutzbedürftige Pflänzchen überall, junge Bäume, Sträucher, Moose, frische Beete. Viele von ihnen importiert aus den großen Weiten Russlands. Direkt neben dem Kreml hat sich Moskau ein neues Biotop gegönnt und dazu Gewächse aus allen Klimazonen des Landes verpflanzt, auf dass mithilfe von Temperaturreglern und Heizstrahlern hier auch ein Fleckchen Tundra und Steppe gedeiht. Ein Mikrokosmos zum Entspannen. Zum ersten Mal seit etwa 70 Jahren gibt es im Zentrum der Hauptstadt eine neue, große Grünanlage; der Park heißt Sarjadje und grenzt unmittelbar an den Roten Platz. Moskau hat sich mit ihm verändert.

Hätte man die Baukosten nicht lieber in den Bau von Schulen stecken sollen?

Ein sonniger, kalter Herbsttag. Kinder toben und klettern an einem kleinen Teich, junge Eltern schieben Kinderwagen, und Olga Alexandrowna sitzt mit Baskenmütze und geschlossenen Augen auf einer der langen Holzbänke. Die 70 Jahre alte ehemalige Lehrerin genießt die jüngste Metamorphose ihrer Stadt. Sarjadje, das kleine Areal zwischen Kreml, dem Fluss Moskwa und dem alten Viertel Kitai Gorod, war einst im späten Mittelalter ein Ort der Händler gewesen, im 19. Jahrhundert ein Zentrum der jüdischen Gemeinde. Als dann die Kommunisten regierten, verbauten sie die 13 Hektar große Fläche in den Sechzigerjahren mit dem größten Hotel der Welt: dem sozialistischen Übernachtungskasten "Rossija". Olga Alexandrowna ist froh, "dass dieses scheußliche Ding hier endlich weg ist".

Nach dem Abriss des Hotels war lange spekuliert worden, was in Moskaus teuerster Lage dank billiger Arbeiter aus Zentralasien und dem Kaukasus entstehen soll: ein Parlamentsgebäude, war so eine Idee. Auch ein Geschäftszentrum mit Hotel war im Gespräch. Dass es ein Park wurde, soll Präsident Wladimir Putin eingefallen sein, gegen dessen Willen er zumindest nicht geschaffen worden wäre. Vor zwei Monaten war Putin bei der Eröffnung dabei. Aber das Lob der Besucher heimst vor allem Bürgermeister Sergej Sobjanin ein. Immer wieder fällt bei den Flaneuren ungefragt sein Name, "ich liebe ihn", sagt auch Olga Alexandrowna. Sogar der kritische Blogger Ilja Warlamow schrieb von einem "neuen Blick" auf Russland.

Der Sarjadje-Park öffnet Perspektiven, die es vorher nie gegeben hat. Die bunt-verspielte Basilius-Kathedrale, das wohl meistfotografierte Motiv Russlands und immer gleich vom Roten Platz oder der Flussseite aus aufgenommen, ist nun auch grün umrahmt von Nadelbäumen und mit Graslandschaft zu sehen. Einen neuen Blickwinkel zum Kreml samt mächtigem Gemäuer und Kirchenkuppeln schafft wiederum ein Aussichtsweg, "schwebende Brücke" genannt, der wie ein umgedrehtes V bis halb über den Moskwa-Fluss ragt.

Gestaltet wurde der Park nach dem Entwurf des New Yorker Architekturbüros Diller Scofidio + Renfro. Aber es gab auch Kritik, dass die Philharmonie erst im nächsten Jahr eröffnet wird, die Architekturbehörde nörgelte, dass die historische Entwicklung des Sarjadje-Viertels nicht genügend gewürdigt werde. Der Moskauer Architekt Jewgenij Ass sagt der SZ, "rein landschaftlich ist es ein gutes Design, aber ich habe Zweifel, was den Ort selber angeht. Moskau hat schon zu viele symbolische Objekte. Kreml, Roter Platz, jetzt der Park. Lauter sakrale Konstruktionen. Es gibt um den Kreml herum aber kaum Restaurants, Kinos und Cafés." Für Ass ist es eine willkürliche Entscheidung der politischen Führung gewesen, "viele Fachleute wurden erst gar nicht einbezogen."

Der Gorki-Park ist lässiger. Dort kann man in bunten Sesseln chillen

Natürlich fragten sich viele Moskauer auch, ob die Baukosten von 200 Millionen Euro (es kursieren auch Schätzungen von bis zu 400 Millionen) nicht doch besser in den Bau von Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern investiert worden wäre. Und die Eröffnungsphase selber ist auch nicht vollkommen geglückt.

Pflanzen wurden geklaut, Beete zertrampelt, und als alles wieder hübsch drapiert war, samt zusätzlich montierten Videokameras, wurde es plötzlich kalt in Moskau. So kalt, dass der elegante hölzerne Boden der spektakulären Aussichtsbrücke zu einer schlüpfrigen Eisfläche gefror. Der Bürgerrechtler Wladimir Fjodorow spottete, "bei all dem vielen Geld hat man offenbar vergessen, dass es in Moskau schon mal Minustemperaturen gibt." Auch bei der Brücke wurde nachgebessert.

Die größte Stadt Europas hat nach dem Bau von 20 Kilometern Radwegen, einem Netz von Fußgängerzonen und der Renovierung Dutzender Parks mit Sarjadje noch einmal aufgeforstet. "Parks waren immer mehr als nur ein Stück Natur. Sie waren Entwürfe vom glücklichen Leben", schreibt der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch über das sowjetische Jahrhundert, "ein Gesamtkunstwerk des organisierten Glücks". Er meint vor allem die bekannteste aller Moskaus Erholungswelten, angelegt in der frühen Sowjetphase: den Gorki-Park. "Der ,neue Mensch' sollte sich darin nicht nur erholen, sondern sich auch amüsieren, sich nicht nur unterhalten, sondern auch geistig weiterbilden und körperlich ertüchtigen." Der Sarjadje-Park scheint daran anzuknüpfen, mit seinem Amphitheater, einem Konzertsaal, Kino, einer Permafrosthöhle und seinem Medienzentrum, in dem die für Russland heroische Schlacht von Borodino gegen Napoleons Truppen nachgezeichnet wird.

Und doch ist der größere Gorki-Park seit seiner Renovierung vor einigen Jahren fundamental anders als Sarjadje. Er spiegelt das lässige Urbane an Moskau: Chillen in bunten Sesseln, Cooles Prahlen in der Halfpipe. Ein Park des sehr individuellen Vergnügens. Den die Moskauer lieben. "Bei Sarjadje muss man erst sehen, wie viele Menschen zum zweiten Mal kommen. Es ist kein idealer Park zum Spazieren", sagt der Architekt Ass. "Es ist eher ein Park für Touristen." Zentraler kann er nicht sein. Es sei denn, auch der Rote Platz wird grün.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: