Süddeutsche Zeitung

Russischer Ferienflieger:Was wir über den Flugzeugabsturz in Ägypten wissen - und was nicht

Briten und USA halten einen Anschlag für wahrscheinlich, die Russen sehen darin reine Spekulation. Innenminister Thomas de Maizière denkt über verschärfte Reisewarnungen für Ägypten nach. Und was ist vom Bekenntnis des IS zu halten?

Von Markus C. Schulte von Drach und Esther Widmann

Nach dem Absturz der russischen Passagiermaschine am Samstag über dem ägyptischen Sinai ist die Ursache noch immer unklar. Briten und Amerikaner halten es für wahrscheinlich, dass es sich um einen Anschlag handelte. So sagte der britische Premierminister David Cameron, es sei wahrscheinlicher, dass das Unglück durch eine Bombe verursacht wurde, als durch irgendeine andere Ursache. Der ägyptische Luftfahrtminister Hossam Kamal dagegen gab an, dass bislang Hinweise auf eine Explosion an Bord des Flugzeugs fehlten. Russland spricht von "Spekulationen". Auch die Audiobotschaft des ägyptischen Ablegers des "Islamischen Staates", in der die Terroristen behaupten, die "Provinz Sinai" sei für den Absturz verantwortlich, gibt keine Gewissheit.

Was ist über den Absturz tatsächlich bekannt?

Am Samstag gegen sechs Uhr startete der Flug 7K-9268 vom ägyptischen Touristenort Scharm el-Scheich am Roten Meer, an Bord 224 Menschen. Die Maschine stieg auf ihre Reiseflughöhe. Nach etwa zwanzig Minuten änderte sie plötzlich Geschwindigkeit und Höhe und verschwand dann von den Radarschirmen. Ägyptische Suchtrupps entdeckten nach einigen Stunden Wrackteile des Flugzeugs und tote Passagiere in einer Gebirgsregion bei Hasna. Auch der - beschädigte - Stimmenrekorder und der Flugdatenschreiber wurden geborgen.

Experten aus verschiedenen Ländern untersuchen den Absturz und werten die Geräte aus. Beteiligt sind Fachleute aus Ägypten, Russland, Irland und des Flugzeugherstellers Airbus, aber auch aus Deutschland, da das Flugzeug dort zusammengebaut wurde. Die Agentur Interfax hat berichtet, dass die Aufnahmegeräte kurz vor dem Absturz ungewöhnliche Geräusche aufgenommen haben. Bis ein abschließendes Ergebnis der Untersuchungen vorliegt, kann es aber noch Monate dauern.

Die betroffene Fluggesellschaft Metrojet hat einen technischen Defekt bereits ausgeschlossen, was bei einigen Fachleuten allerdings auf Kritik gestoßen ist.

Bilder eines US-Satelliten, der Raketenstarts erfassen soll, zeigen einen Hitzeblitz in der Gegend, in der das Flugzeug abgestürzt ist. Die Ursache ist noch unklar. Es könnte sich um eine Explosion an Bord der Maschine gehandelt haben - aufgrund eines technischen Defekts oder einer Bombe. Auch von der Möglichkeit eines Triebwerkbrands ist die Rede. Ein Raketenangriff wird von Experten ausgeschlossen.

Die britische Regierung hat erklärt, aufgrund der vorliegenden Informationen sei die Sorge gewachsen, "dass das Flugzeug durch einen Sprengsatz zum Absturz gebracht worden sein könnte". Ägyptens Luftfahrtminister Hossam Kamal sagte dagegen, es gebe keine Anzeichen oder Daten, die diese Hypothese unterstützten.

Könnten IS-Terroristen das Flugzeug zerstört haben?

Kurz nach dem Absturz am Samstag meldete sich die lokale dschihadistische Gruppe namens Wilayat Sinai (Provinz Sinai) auf Twitter mit einer Audiobotschaft: Sie hätten das Flugzeug abgeschossen. Wörtlich hieß es, die "Soldaten des Kalifats haben es geschafft, ein russisches Flugzeug in der Provinz Sinai herunter zu holen". Die mehr als 220 "Kreuzzügler" an Bord der Maschine seien getötet worden. Der Abschuss sei eine Racheaktion für die russische Intervention in Syrien.

Am Mittwoch wurde eine neue Audiobotschaft auf Twitter veröffentlicht, in der die Gruppe behauptet, sie habe die Maschine zum Absturz gebracht. Die Stellungnahme konnte jedoch zunächst nicht unabhängig verifiziert werden. In der Aufnahme heißt es: "Sagt uns, was die Ergebnisse eurer Untersuchung sind. Beweist, dass wir es nicht zum Absturz gebracht haben und wie es abgestürzt ist." Die Gruppe werde "zu gegebener Zeit" Details darüber bekanntgeben, wie sie den Absturz herbeigeführt habe. Im Moment habe der IS "keinerlei Verpflichtung", dies zu tun.

Den Dschihadisten zufolge wurde das Flugzeug genau ein Jahr nach dem Tag zum Absturz gebracht, an dem sich islamistische Kämpfer auf dem Sinai der IS-Miliz angeschlossen hatten.

Was ist über den IS auf der Sinai-Halbinsel bekannt?

Bis Herbst 2014 nannte sich die Terror-Gruppe Ansar Bayt al-Maqdis (Unterstützer Jerusalems). Im Oktober 2014 schworen ihre Mitglieder dem Anführer des selbsternannten Islamischen Staats (IS), Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue. Gleichzeitig mit dem Anschluss an den IS änderte die Gruppe ihren Namen in Wilayat Sinai.

Sie hat sich in den vergangenen Jahren für diverse Terrorattacken auf dem Sinai verantwortlich erklärt. Erst am Dienstag dieser Woche verübte die Gruppe einen Selbstmordanschlag auf einen Polizei-Club in der Stadt Al-Arisch. Bei der Explosion wurden drei Polizisten getötet und zehn weitere Menschen verletzt. Al-Arisch liegt 70 Kilometer nördlich der Absturzstelle des russischen Flugzeugs.

Britische Experten haben die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen von Scharm el-Scheich überprüft - und für nicht ausreichend befunden. Die Regierung in London hat alle Flüge britischer Flugzeuge von und nach dort gestoppt. Etwa 9000 britische Touristen sitzen nun dort fest. Inzwischen plant Großbritannien, sie auszufliegen.

Am Donnerstag hat auch der Lufthansa-Konzern beschlossen, die Halbinsel nicht mehr anzufliegen. Zwei wöchentliche Flüge der Tochter-Gesellschaften Edelweiss und Eurowings nach Scharm el-Scheich fallen demnach aus. Informationen des Deutschen Reiseverbandes zufolge befinden sich In Scharm el-Scheich 2000 Deutsche, die jedoch nicht "festsitzen". Laut Lufthansa organisiert das Unternehmen gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und den Reiseveranstaltern Rückflüge für die Fluggäste in Scharm el-Scheich.

Die niederländische Regierung rät ebenfalls von Flügen dorthin ab. Niederländische Fluggesellschaften fliegen die Region nicht mehr an - vorläufig bis Sonntag. Weitere Fluggesellschaften haben von sich aus gesagt, ihre Flugrouten abzuändern und nicht mehr über den Sinai zu fliegen: etwa Air Berlin, Air France, Qatar Airways und Emirates.

In Russland herrscht Trauer über die Opfer des Absturzes, von denen die ersten jezt beerdigt wurden. Die Regierung weist bislang alle Vermutungen zurück, dass es sich um einen Bombenanschlag gehandelt haben könnte. Ausschließen ließe sich das zwar nicht, aber das Herausheben einer solchen Theorie sei bloße Spekulation, sagte der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow.

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi kritisierte die Verbreitung der "Propaganda" des "Islamischen Staates" durch die Medien. Dies könnte die Stabilität und Sicherheit Ägyptens sowie den Ruf des Landes beschädigen.

Dem Auswärtigen Amt zufolge besteht in Ägypten landesweit ein erhöhtes Risiko für terroristische Anschläge und Entführungen. Im nördlichen Teil der Sinai-Halbinsel besteht seit längerer Zeit Ausnahmezustand. Für Touristen, die den Flughafen Scharm el-Scheich nutzen wollten, rät das Amt, Reiseveranstalter oder Fluggesellschaften zu kontaktieren. Die Reisewarnungen hat das Amt bislang jedoch nicht verschärft. Wie Innenminister Thomas de Maizière sagte, könnte sich dies allerdings kurzfristig ändern.

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