Bettina Wulff und Gerüchte im Netz:Wenn das Recht auf Vergessen nicht gilt

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Die frei erfundenen Gerüchte gegen Bettina Wulff können im Netz bis heute ungebremst weiterwuchern. Internetrecht? Allein das Wort ist ein schlechter Witz. Der Gesetzgeber schaut dem digitalen Mobbing seit Jahren tatenlos zu. Ein Skandal.

Heribert Prantl

Es gibt verschiedene Arten von Lawinen: Schneebrettlawinen, Lockerschneelawinen, Staublawinen, Eislawinen. Diese Lawinen sind unglaublich schnell, manche mehr als dreihundert Stundenkilometer, sie ersticken und erdrücken ihre Opfer. Noch schneller sind nur die Internet-Lawinen, die die abenteuerlichsten Gerüchte mit abenteuerlicher Geschwindigkeit weltweit verbreiten. Diese Internet-Lawinen ersticken und erdrücken ihre Opfer nicht unbedingt, sie ruinieren aber ihren Ruf, ihr Ansehen, ihre Lebensleistung. Internet-Mobbing ist die wohl unabänderlichste Form des Mobbings.

Fast schutzlos den Gerüchten über ihre Person im Internet ausgesetzt: Ex-First-Lady Bettina Wulff. (Foto: Getty Images)

Bettina Wulf hat das erlebt. Sie wurde, ihr Mann war in dieser Zeit Bundespräsident, als angebliche ehemalige Prostituierte denunziert; politische Gegner ihres Mannes waren offenbar die Betreiber und Verbreiter dieser Gerüchte. Es gab und gibt Bilder im Internet, die angeblich sie in einem Erotik-Club zeigen. Wenn man heute bei Google das Wort "Bettina" eingibt, erhält man zur Vervollständigung der Suche das Angebot "Bettina Wulff Prostituierte" und weitere stichwortartige Verleumdungen einschlägiger Art.

Zum Schutz vor Schnee- und Eislawinen gibt es passive und aktive Schutzmaßnahmen: Da werden ganze Wälder angelegt, Betonwände gebaut, Barrieren montiert, es werden Lawinen gesprengt und so abgeleitet, dass sie wenig Schaden anrichten. Es gibt gegen Eis- und Schneelawinen allerlei sinnvolle Verhaltensregeln, die die Menschen schützen. Und es gibt natürlich, wenn das Unglück trotzdem passiert, Lawinensonden, Lawinenhunde und diverses Suchgerät, um die Verschütteten ausgraben zu können.

Das Internet-Opfer muss sich selbst helfen

Bei Internet-Lawinen gibt es nichts. Es gibt keine Paragrafen, die das potenzielle Opfer schützen, es gibt keine Hilfstruppen, die ausrücken, um das Opfer freizuschaufeln. Man hat bisher auch nicht davon gehört, dass ein Datenschutzbeauftragter Bettina Wulff geholfen hätte.

Das Internet-Opfer muss sich selbst helfen. Und wenn es sich selbst zu helfen versucht, dann erlebt es die Macht des Gerüchts: Die Gerüchte belasten nämlich nicht nur ihr Opfer, sie verseuchen auch die Umwelt und vergiften das Denken. Die Lawinenhunde des Internets helfen nicht, sie grinsen stattdessen über die Entlarvung des Gerüchts, treiben auf den benachbarten Hängen ihre Späße und bloggen darüber, dass dem Opfer, wenn ihm nun nicht dieses, so doch sehr wohl anderes zuzutrauen sei. Das entlarvte Gerücht nährt neue Gerüchte, und daraus werden Quasi-Wahrheiten und Quasi-Realitäten.

Der griechische Philosoph Plutarch hat vor zweitausend Jahren gelebt. Aber sein Satz, dass "immer etwas hängenbleibt", war nie so wahr wie heute. "Audacter calumniare, semper aliquid haeret": Das klingt wie ein Zauberspruch aus "Harry Potter", ist aber der Schlüsselsatz der Mediengesellschaft: Verleumde nur frech, es bleibt immer etwas hängen.

Was hängenbleibt, hängt heute nicht einfach in ein paar Köpfen und ein paar alten Zeitungen herum, sondern im Internet. Und das führt dazu, dass das Hängengebliebene sich ewig selbst regeneriert und multipliziert - unter anderem mit der automatischen Stichwortverknüpfung von Unternehmen wie Google, dem " autocomplete". Zum ersten Mal in der Geschichte funktioniert offenbar heute im Internet ein Perpetuum mobile: Eine Konstruktion, einmal in Bewegung gesetzt, bleibt ewig in Bewegung.

Ist das so Recht? Es ist jedenfalls Faktum.

Der Frankfurter Rechtsprofessor Spiros Simitis, der Doyen des Datenschutzes in Europa, ist nicht bereit, das noch länger einfach so hinzunehmen. Konzerne, die die eben erwähnte Kommunikationstechnik bereitstellen, sagt er, "dürfen dieses nur tun, wenn der Datenschutz gesichert ist". Simitis akzeptiert es nicht, wenn die neue Informationstechnologie mit der Meinungsfreiheit einfach gleichgesetzt wird - wie dies die Grünen und die Piraten tun.

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Es ist mit dem Internet ähnlich wie mit dem Auto: Man kann sich damit das Leben wunderbar erleichtern, man kann damit aber auch Leute totfahren. Um Letzteres möglichst zu verhindern, gibt es Regeln, gibt es Zulassungs- und Straßenverkehrsordnungen, gibt es Strafrecht. Für das Internet gibt es noch kaum Regeln.

Seit Kurzem gibt es freilich den Entwurf einer Verordnung der EU-Kommission zum Datenschutz. Dort findet sich im Artikel 17 ein "Recht auf Vergessenwerden" - aber keine vernünftigen Regeln zu dessen Durchsetzung. Wer vergisst? Wie vergisst er? Das geht im Internet nicht so leicht.

Eine Welt ohne Recht ist friedlos

Spiros Simitis hat nun eine intensive Woche lang Gelegenheit, daran rechtlich etwas zu ändern: Im Zentrum des 69. Deutschen Juristentages, der am Dienstag in München beginnt, steht das Thema "Persönlichkeits- und Datenschutz im Internet - Anforderungen und Grenzen einer Regulierung". Der Juristentag, der alle zwei Jahre stattfindet, ist die wohl wichtigste rechtspolitische Veranstaltung in Europa, und Simitis ist Vizepräsident der dortigen "Abteilung IT- und Kommunikationsrecht", die (wie das bei den Juristentagen üblich ist) zum Abschluss der Beratungen Empfehlungen an den Gesetzgeber verabschiedet.

Es geht dabei letztlich um die Frage, wer im Internet das Recht setzt: Gesetzgeber, Gerichte oder Internet-Konzerne wie Google. Es geht darum, ob im digitalen Zeitalter Persönlichkeitsrecht und Datenschutz noch etwas gelten. Es geht nicht um ein Auftrumpfen des Rechts, sondern darum, ob und wie es im Internet wirksam werden kann. Dagegen kann niemand etwas haben. Eine Welt ohne Recht ist friedlos.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts, am Beginn des modernen Zeitungszeitalters, stand der Fall Eulenburg. Graf Eulenburg gehörte zur Entourage des jungen Kaisers Wilhelm II., er galt als des Kaisers bester Freund, als ebenso feinsinnige wie intrigante Schlüsselfigur des wilhelminischen Establishments. Dem Journalisten Maximilian Harden galt der achtfache Vater Eulenburg als übler Einflüsterer, als Haupt einer bösen Nebenregierung. Harden denunzierte ihn, erst vorsichtig, dann immer brutaler, als Haupt einer schwulen Verschwörerbande. Maximilian Harden machte die Homosexualität Eulenburgs und seines Kreises zum Politikum.

Es war dies der erste gewaltige Medienskandal in Deutschland. Harden zog alle Register des Sensationsjournalismus, um die Männer in der engsten Umgebung des Kaisers, deren Einfluss er für unselig hielt, zu stürzen. Der liberale Politiker Walther Rathenau, später Außenminister, sprach von einem "dreckigen Metier", in dem Harden sich tummele. Dem Journalisten Harden entglitt seine Kampagne komplett, es wurde daraus eine einzige große Dreckwäscherei und eine Hetzjagd gegen Homosexuelle.

Am Ende einer vierjährigen Prozess- und Schlammschlacht waren nicht nur Eulenburg & Co gesellschaftlich und politisch vernichtet, sondern auch Maximilian Harden auf Dauer desavouiert. Er immerhin stand für seine Kampagne ein. Die Hetzer im Internet sind und bleiben meist anonym.

Mit der Verbissenheit der Kampagne und der Maßlosigkeit ihrer Mittel entzog Maximilian Harden seinerzeit seiner politischen Kritik die Legitimität. Man ist ein wenig erinnert an die Art und Weise, wie die Kampagne gegen den unglücklichen und glücklosen Bundespräsidenten Christian Wulff betrieben wurde - die Verleumdung seiner Ehefrau war ein Teil dieser über weite Strecken ziemlich selbstgefälligen publizistischen Kampagne.

Wie gesagt: Am Beginn des Zeitungszeitalters stand diese Eulenburg-Affäre. Am Beginn des Internet-Zeitalters stehen Kampagnen wie die gegen die Wulffs.

Es gibt zwei Arten dieser netzgestützten Kampagnen: Die einen haben einen wahren Kern - wie damals die Kampagne gegen Eulenburg; andere sind blanke böse Erfindung - wie heute die Verleumdung von Bettina Wulff eine ist, die aber mit den kleineren und größeren Vorwürfen gegen ihren Mann, den Politiker, süffisant verwoben wurde. Christian Wulff wurde mit den Vorwürfen über finanzielle Unregelmäßigkeiten die moralische Eignung für das Bundespräsidentenamt aberkannt - da kamen die erlogenen moralischen Anwürfe gegen seine Frau gerade zupass.

Die Kampagnen mit dem wahren Kern zerren oft Details aus dem Intimleben des Entlarvten ans Licht; Details, die freilich niemanden etwas angehen. Max Mosley, der frühere Präsident des Weltmotorsportverbandes FIA führt bis heute einen Kampf gegen die Bilder, die ihn halb nackt präsentieren; sie wurden gemacht, als er auf einer Sex-Party fotografiert wurde; seine ganze Vita ist seitdem, wie der Spiegel schreibt, auf diesen Skandal zusammengeschmolzen.

Warum? Weil Konzerne wie Google riesige Maschinerien gegen das Recht auf Vergessen geworden sind. Das wissen und erleiden auch die Frauen, deren Ex-Freunde und Ex-Ehemänner intime Fotos ins Netz stellen - aus Rache, aus Bosheit, aus Lust an der Entwürdigung, aus Lust am Rufmord, aus Machtlust.

Komplette Erfindung kompromittierender Geschichten

Solche Lust führt dann auch, wie im Fall Bettina Wulff, zur kompletten Erfindung kompromittierender Geschichten. Die schweinische Kampagne gegen sie hat wohl den Rücktritt ihres Mannes als Staatsoberhaupt mit befördert. Er und sie waren hier aus juristischen Gründen ganz besonders ohnmächtig: Hätten sie damals schon vor Gericht geklagt, wäre die Rotlicht-Geschichte noch stärker in der Öffentlichkeit breitgetreten worden - als angeblich notwendige, genüssliche Berichterstattung über ein gerichtliches Verfahren.

"Restitutio ad integrum" nennt man in der Medizin die vollständige Wiederherstellung eines Menschen nach Abschluss des Heilungsprozesses. Manchmal bleiben Narben zurück. So gut funktioniert das Recht leider nicht; große Narben bleiben dort immer. Und vollständige rechtliche Heilung bei massivsten Persönlichkeitsrechtsverletzungen gelingt nie. Im Internet gibt es bislang nicht einmal halbwegs ordentliche Heilungsversuche. Es ist leider so: Das bisherige Internetrecht verdient nicht einmal das Wort Recht.

Vor dreißig Jahren, in Vor-Internet-Zeiten, wurde Günter Kießling, Vier-Sterne-General, Opfer von Gerüchten. Sie besagten, er sei homosexuell, er treibe sich in einschlägigen Lokalen herum und sei deswegen erpressbar. Zeitungen berichteten verlogene Einzelheiten, ließen suspekte Zeugen zu Wort kommen. Der damalige Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner erklärte ihn daraufhin zum Sicherheitsrisiko, schickte ihm formlos die Entlassung. Der General wehrte sich - der Verteidigungsminister geriet immer stärker in Beweisnot; er hatte sich blind auf einen Gerüchtemix des Militärischen Abschirmdienstes MAD verlassen, dem einige Andeutungen von US-Offizieren zugrunde lagen; die Öffentlichkeit hatte zu diesem Mix noch ihre eigenen Spekulationen dazu getan. Aus dem Fall Kießling wurde schließlich ein Fall Wörner: Er musste den General wieder einstellen.

Es war dies der Versuch einer juristischen Restitutio ad integrum. Man kann sich überlegen, wie das in der Causa Wulff, wie das bei Bettina Wulff aussehen könnte.

Wäre der Fall Kießling in jüngerer Zeit passiert, der General müsste womöglich damit leben, dass bei der Google-Suche nach der Eingabe der ersten Buchstaben seines Namens schon die Namen einschlägiger Sex-Lokale auftauchen. So wie es heute auch Schulen es aushalten müssen, dass bei der Eingabe ihres Namens dahinter sofort das Wort "Selbstmord" erscheint.

Wie lange noch?

© SZ vom 15.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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