Rohingya auf der Flucht:Obdachlos und ohne Hoffnung auf eine Zukunft

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Das Ehepaar Khatun lebt mit seinen drei Kindern seit der Flucht in einem Zelt, das eher an eine Höhle erinnert. (Foto: Arne Perras)

Hunderttausende Rohingya sind aus Furcht vor Gewalt aus Myanmar nach Bangladesch geflohen. Diese Familie hat nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern auch ein Kind.

Von Arne Perras, Thainkhali

Schlamm, knöcheltief. Wer noch vorankommen will bei diesem Wolkenbruch, watet jetzt durch Pfützen. Dann führt der Weg über eine Brücke, schließlich hinauf zu einer bewaldeten Kuppe. Irgendwo dort oben müssen sie sein.

Vor drei Monaten war Zohura Khatun mit ihrer Familie über den Fluss Naf geflohen, fort aus Myanmar, hinüber nach Bangladesch. Sie sind Rohingya, Angehörige der muslimischen Minderheit. Man traf sie damals am Morgen des 13. September. Hungrig, durstig, erschöpft. Die Mutter war schwanger, die Kinder voller Angst, der Vater rastlos. Sie erzählten von mordenden Soldaten jenseits der Grenze, von den Strapazen ihrer Flucht. Und dann waren sie plötzlich: verschwunden.

Nur ihre Namen und ein Foto waren geblieben. Würde es möglich sein, sie unter hunderttausenden Flüchtlingen wieder zu finden? Ein Helfer war bereit, es zumindest zu versuchen. Wochen vergingen, dann schickte er eine SMS: "Familie entdeckt". Und so führt der Weg noch einmal zu Zohura Khatun. Wie ist es der Familie seither ergangen? Ist das Baby schon geboren? Und werden sie jetzt bald heimkehren, wo Bangladesch und Myanmar ein Abkommen unterzeichnet haben? Viele Fragen drängen sich auf im Drama um die Rohingya, Südostasiens größter Flüchtlingskrise seit dem Vietnamkrieg.

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Ein Mann in der Ferne, er winkt. Als er näherkommt, erkennt man ihn wieder: Ehemann Zohor trägt dasselbe grün gestreifte Polohemd wie damals. Nur ist es jetzt völlig ausgebleicht. Er reicht seine Hand zum Gruß und legt sie auf sein Herz. Kurz sieht es so aus, als husche etwas wie Freude über sein Gesicht. Dann kehrt der starre Blick zurück. Zohor führt durch das Labyrinth der Zelte, rechts, links, rechts. "Hier hinein", sagt er, schlüpft ins Innere.

Sechs Quadratmeter auf blankem Lehm. Das ist ihre Behausung. Sie haben den Boden geebnet, Bambus eingerammt, ein Gestell gebunden und mit Plane überzogen. Mehr Höhle als Zelt. Vor dem Regen, der über die Hügel peitscht, schützt es nur schlecht. Drinnen sitzen drei Söhne, zwei, vier und sieben Jahre alt. Und hinter ihnen Mutter Zohura. Sie hat ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlagen und verteilt eine Handvoll Erdnüsse an ihre Kinder.

Vom Baby, das schon geboren sein muss, ist nichts zu sehen. Zohura sagte beim ersten Treffen: "Ich möchte, dass mein Kinder irgendwann Pässe bekommen." Davon träumen sie alle. Bürger sein von Myanmar. Aber die Rohingya sind staatenlos, haben keine Rechte, obwohl Zohura sagt, ihre Familie lebe schon seit Generationen dort. Zuhause, das ist Myanmar.

In den ersten Tagen nach der Flucht seien sie nur umhergeirrt, erzählt Zohura. Wohin sie auch kamen, herrschte Chaos. Ihr Mann suchte nach einem Flecken Erde, um ein Zelt zu bauen, aber da war nirgends Platz, Tausende lagerten an Wegrändern, auf Hügeln, in den Feldern. Als sie endlich Platz gefunden hatten, überfielen Zohura schlimme Schmerzen. Die Schwangere brauchte Ruhe, sie spürte: bald würde das Baby kommen. Und wehe, sie würden kein Dach über den Kopf bekommen.

Ihr Mann verkaufte, was er noch hatte, davon zahlte er Bambus und Planen für den Unterschlupf. Als er fertig war, freuten sich alle. Jetzt konnte es kommen, das Baby. Doch nach fünf Tagen kam das Militär. Und kein Flehen half. Sie mussten umziehen, sofort. Angesichts des Chaos hatten die Streitkräfte die Kontrolle über das Gebiet übernommen, sie siedelten die Flüchtlinge immer wieder um, damit die Lage halbwegs beherrschbar blieb. Aber Zohura hatte Angst, sie brauchte doch einen Platz, um ihr Baby zur Welt zu bringen.

Ihr Mann ist in jenen Tagen nervös, weiß nicht, wie er so schnell ein neues Zelt auftreiben soll. Er muss Essensrationen verkaufen, um Baumaterial zu besorgen. Doch es kommt noch schlimmer: Die Kinder werden krank, seine Frau hat wieder Schmerzen. Zohor kämpft gegen die Zeit.

Schließlich gelingt es ihm gerade noch, einen neuen Unterschlupf zu bauen, hier unter den Bäumen. Dann kommen die Wehen. Es ist der 3. oder 4. Oktober 2017, abends um acht. Zohura gebärt ihr Kind. Wieder ist es ein Junge. Als sie den Kleinen zu sich holt, dankt sie Allah, dem Allmächtigen. Aber bald merkt sie, wie schwach er ist, Mutter und Vater machen sich Sorgen, weit und breit gibt es keinen Arzt. Sie beten für ihren Neugeborenen. Doch um drei Uhr morgens ist er tot.

"Er war einfach zu schwach für dieses Leben", sagt seine Mutter, sie zupft jetzt am Stoff ihres Kopftuchs. Begraben haben sie ihn jenseits der Straße, den Weg zurück nach Hause werden sie ohne ihren Jüngsten antreten müssen, der nur sieben Stunden auf dieser Welt hatte. Wie die Mutter das alles verkraftet? Sie zeigt kaum etwas von ihren Gefühlen, sie wirkt beherrscht, Zohura trauert still um ihr Kind.

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Aber wann werden sie fortkommen von diesem elenden Ort? Hat die Familie einen Plan? Die Rückführung der Flüchtlinge könne schon bald beginnen, versichert Myanmar. Doch die Familie traut den Zusagen nicht. "Irgendein starkes Land müsste für unsere Sicherheit garantieren", sagt Vater Zohor. "Und wir brauchen unsere Staatsbürgerschaft, sonst wird sich an unserem Leben nie etwas ändern."

Seine Skepsis deckt sich mit Einschätzungen von UN-Helfern, die davor warnen, Vertriebene jetzt schon zurück zu schicken. Solange Myanmars Armee keine internationale Präsenz zulässt, solange Geflohene nicht in ihre früheren Dörfer dürfen, um Häuser wieder aufzubauen, haben sie kaum eine Zukunft. Myanmar fordert, die Leute müssten erst einmal nachweisen, dass sie tatsächlich dort gelebt haben. Viele aber haben keine Papiere mehr, weil ihr ganzer Besitz in Flammen aufging. Die Armee behauptet, sie habe Rebellen bekämpft. Doch sie hinterließ verbrannte Erde und löste einen Flüchtlingsstrom aus, der bis heute kein Ende findet. Am Wochenende sammelten sich erneut 20 000 Rohingya jenseits des Flusses. Sie fliehen, trotz des Abkommens zwischen den Staaten.

Zohura Khatun jedenfalls will keine Rückkehr wagen. Ihr Mann telefonierte eben mit einem Bekannten, der noch auf der anderen Seite lebt. "Ich weiß nur von wenigen, die geblieben sind", sagt er. "Es ist gefährlich. Mein Freund erzählt, Buddhisten seien auf unser Land gezogen." Buddhistische Gruppen sind verdächtig, die Soldaten bei Vertreibungen der muslimischen Minderheit unterstützt zu haben. So wird die Familie erst mal in ihrer selbstgebauten Höhle bleiben. Und versuchen zu überleben. Essen gibt es von den Helfern, doch es ist eng. Überall hört man Kinder röcheln und husten. Kurz nach dem Tod des Babys packte den dritten Sohn schweres Fieber. Tagelang bangte die Familie. UN-Helfer warnen, dass die Diphtherie umgehe, 36 Flüchtlinge hat sie schon getötet. "Aber unser Kleiner kann schon wieder stehen", sagt die Mutter. Ein Lächeln. Er schafft es. "Sonst würde er jetzt keine Erdnüsse verdrücken."

© SZ vom 12.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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