Rinder in Indien:Ein Häufchen Heiligkeit

Einst haben die Hindus ihre Rinder als Götter verehrt. Selbst dem Urin der Tiere schrieben sie magische Kräfte zu. Heute trotten aushungerte Kühe durch die Straßen Neu Delhis, fressen Plastik und werden aus der Stadt gejagt.

Karin Steinberger

Sunita Nauriyal hat es sofort gewusst. Sie hat die trockene Haut der Patientin in die Finger genommen, gespannt wie eine Dholak-Trommel, hat die Knochen abgetastet, spitz wie die Gipfel des Himalaya, hat die tief liegenden Augen gesehen, trüb wie Seen während des Monsun, hat die eitrige Wunde am Bein abgetastet, stinkend wie eine Pfütze in der Mahatma Gandhi Road.

Bullen in Neu Delhi, Foto: Reuters

Eine Horde Bullen hält in Neu Delhi den Verkehr auf. Kühe verursachen in Indien viele Verkehrsunfälle mit Todesopfern.

(Foto: Foto: Reuters)

Sunita Nauriyal hat auch diesmal sofort gewusst, dass diese Kuh schon lange nicht mehr so behandelt wurde, wie es sich für eine Gottheit gehört.

Ausgesetzt, angefahren, liegen gelassen. Ein Häufchen Heiligkeit.

Also hat die Tierärztin Nauriyal dem zitternden Vieh eine Nadel in die schlaffen Hautlappen am Hals gerammt, hat die Wunde desinfiziert, eine Decke über das abgemagerte Hinterteil gelegt und haufenweise Futter vor die Schnauze.

Heiligkeiten mit amputierten Beinen

Dann hat sie die Kuh dorthin bringen lassen, wo sie alle hinkommen, wenn sie die Neuzeit schwer verletzt überlebt haben: in das "Sanjay Gandhi Memorial Animal Care Centre" am Rand der Stadt, nicht weit von einer der neuen, vielspurigen Straßen entfernt, auf die sie im Rathaus der indischen Hauptstadt so stolz sind.

Sunita Nauriyal sitzt in ihrem Büro im Animal Care Centre, an den Wänden hängt internationales Rindvieh: Simmentaler Fleckvieh, Deutsches Gelbvieh. Kraftstrotzende Leiber.

Und hinten im Auffanglager humpelt ein Dromedar mit schlaffem Höcker herum, stolpern staubige Esel und dehydrierte Kühe über sandigen Boden. Delhis Verkehrsopfer, meist Kühe. Hunderte von ihnen sind hier, mit amputierten Beinen und aufgeblähten Mägen. Heiligkeiten allesamt. Doch ihr Zustand ist angsteinflößend.

Was waren sie einmal für stolze Wesen. Unangreifbar, unnahbar. Im Hindu-Pantheon ist ihr Platz an der Seite Lord Krishnas, ihrem Urin schrieb man magische Kräfte zu und man füllte ihn in Flaschen ab, als Heilmittel gegen Fettsucht.

Als ein indischer Historiker vor Jahren herausfand, dass Rinder in früheren Zeiten im Land geschlachtet und gegessen worden waren, drohten Hindu-Fanatiker dem Mann mit dem Tod, falls er derart Blasphemisches veröffentliche.

Bäuche wie Luftballons

Es starben Hunderte Menschen, weil Politiker das Vieh immer wieder missbrauchten und den Mob aufwiegelten gegen die Muslims, obwohl sie seit Jahrhunderten schon im Land Kühe schlachten.

Mord und Totschlag, zur Rettung einer Heiligen. Geholfen hat es wenig.

Sunita Nauriyal verdreht die Augen. Von wegen heilig. Die Kühe mögen gesetzlich geschützt sein, aber sie kennt die Abgründe in den Kuhmägen Delhis. Auch, weil die gläubigen Hindus Rindern gerne Süßigkeiten ins Maul stopfen, kiloweise Zucker.

Und dann lassen sie sie stehen, im Abgas der Neustadt, mit Bäuchen wie Luftballons. "Die fressen alles, wir haben hier wirklich schon vieles aus Kuhmägen herausgeholt", sagt Nauriyal, greift in den Mülleimer, wühlt durch Plastik und Pappkartons.

Ein Häufchen Heiligkeit

Nichts, was eine hungrige Kuh nicht fressen würde.

Kuh in Neu Delhi, Foto: AFP

Eine Kuh sitzt auf einer Verkehrsinsel im indischen Neu Delhi. So gut genährt sind viele der heiligen Tiere längst nicht mehr.

(Foto: Foto: AFP)

Und die, die durch die Straßen der Hauptstadt irren, sind meist hungrig: Weil sie Menschen gehören, die selber nicht genug haben, oder sich denken, dass der Müll schon reicht. Oder sie sind herrenlos, weil sie nichts mehr bringen, keine Milch, kein Einkommen.

Heilige, ausgedörrte Kostenfaktoren.

Und so liegen die Rinder herum auf den vielspurigen Autobahnen der Stadt, staksen über Kreuzungen und durch gläserne Einkaufspassagen, Plastiktüten widerkäuend.

Relikte aus einer Zeit, von der die meisten hier schon lange nichts mehr wissen wollen. Sie hinterlassen suppige Kuhfladen vor Designerläden. Doch während man die Haufen jahrhundertelang sammelte und trocknete und sich an ihnen wärmte, liegen sie jetzt in dieser Stadt herum wie Fremdkörper.

Kuh tötet Priester

Es gibt keinen Platz mehr für die heiligen Kühe, sie werden von einer Ecke in die nächste gescheucht, von coolen Boutiquebesitzern, genervten Autofahrern und ängstlichen Müttern - bis sie hineinstolpern in einen neuen Kleinwagen. Dummes Vieh.

Schon 2002 nahm sich Delhis Oberster Gerichtshof der Sache an. Das Urteil war hart, die Kühe seien eine Gefahr. Und eine Schande obendrein. Was solle die Welt denken angesichts der herrenlosen Kühe, ein falsches Signal sei das aus einem Land, das boomt und blüht und Computer baut und Computeringenieure hervorbringt.

Die Kühe müssten verschwinden, so das Urteil. Es war ein Sturz von der Gottheit zur Verfolgten. Die Kuh, die Mörderin. In den Zeitungen steht, allein 2005 hätten Delhis wilde Rinder einen Priester getötet, einen pensionierten Bahnarbeiter, eine Hausangestellte, einen Schrotthändler und einen Mann namens Rajveer. Gefährliches Vieh.

Mikrochip-Einsatz

"Die Moderne ist nicht bestimmt für die Kühe", sagt ein Mann im Rathaus der Stadt, im Büro der Veterinäre. Man habe hier schon vieles probiert, um die freilaufenden Tiere loszuwerden.

Man habe die Besitzer Bußgelder zahlen lassen, habe ihnen die Elektrizität abgestellt, man habe Belohnungen ausgeschrieben für alle, die eine herumstreunende Kuh bringen, und man habe gigantische Grünflächen für die Kühe bereitgestellt. Gaushalas, Kuh-Asyle am Rand der Stadt.

Es werden weniger. Aber frei von Kühen ist Delhi noch lange nicht.

Also hat die Stadtverwaltung beschlossen, den 40000 streunenden Kühen für achteinhalb Euro einen in einer Kapsel eingeschlossenen Mikrochip in den Pansen schießen zu lassen.

Bäuche voller Plastik

Zwischen Bakterien und Pilzen schwappt nun das Ding, mit Digitalcode, Besitzername, Verkaufsdatum und Impfdaten der Kuh. Alle Rinder sollen in den nächsten Monaten digital erfasst werden, damit man sie in Zukunft mit einem Ablesegerät zuordnen kann.

Doch die Tiere wehren sich, laufen Amok, wenn die Fangtrupps ihnen hinterherjagen. Wen müsse man hier eigentlich schützen, fragt Tierärztin Sunita Nauriyal. Mensch oder Tier? Neben ihr liegt ein Kalb, dem sie gestern das Bein amputieren musste. Autounfall.

Drumherum Kühe mit Bäuchen voller Plastik, von Blähungen heimgesucht, von der Moderne überrollt. So hungrig seien sie, wenn man sie hierher bringe, sagt Nauriyal, dass sie die Stoffvorhänge fressen, die man ihnen hinhängt gegen die Kälte der Nacht. Weil sie noch nicht wissen, dass sie hier auch morgen wieder Futter bekommen werden, wie früher, als sie noch heilig waren und unantastbar.

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