Als der Richter gerade vorliest, was der vierjährige Mohamed alles erleiden musste, unterbricht ihn die Mutter des Jungen. "Du Arschloch! Was hast du mit meinem Kind gemacht?", schreit sie den Angeklagten Silvio S. quer durch den Verhandlungssaal an. Der Wachmann hat nicht nur ihren Sohn entführt, missbraucht und getötet, sondern auch den sechsjährigen Elias. Er ging dabei äußerst brutal vor. Aber ist der heute 33-Jährige auch ein potenzieller Serientäter und sollte deshalb für immer hinter Gitter? Mit dieser Frage beschäftigt sich nun der Bundesgerichtshof (BGH).
Ein Jahr ist der emotionale Prozess vor dem Landgericht Potsdam her. Damals wurde Silvio S. zu lebenslanger Haft wegen zweifachen Mordes verurteilt. Zusätzlich stellt der Richter die besondere Schwere der Schuld fest - damit ist eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren auf Bewährung nur in besonderen Ausnahmen möglich, etwa bei einer schweren Krankheit. Eigentlich eine ziemlich harte Strafe. Eine Sicherungsverwahrung ordnete er allerdings nicht an.
Der Angeklagte, das sah das Gericht in Potsdam damals als erwiesen an, lockte Elias im Juli 2015 in sein Auto, als der Sechsjährige vor dem Haus seiner Familie in Potsdam spielte. Die Leiche des Jungen vergrub er später in einer Kleingartenanlage. Er war erstickt. Im Oktober entführte Silvio S. dann den Flüchtlingsjungen Mohamed, als der zusammen mit seiner Mutter vor dem Berliner Lageso für Papiere anstand. Im Wohnhaus seiner Eltern misshandelte er den Vierjährigen und erdrosselte ihn mit einem Gürtel - aus Angst, seine Eltern könnten das weinende Kind hören. Die Leiche legte er in eine Plastikwanne und bedeckte sie mit Katzenstreu.
Als die Mutter des Angeklagten ihren Sohn einige Wochen später auf Fahndungsfotos erkannte, stellte sie ihn erst zur Rede und schaltete dann die Polizei ein. Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt: Wie kann es sein, dass ein Mann inmitten von Menschen zwei Kinder entführt und getötet hat? Die Anklage hält es damals sogar für möglich, dass es noch weitere Opfer gibt. In einem Punkt ist sich der Staatsanwalt sicher: Silvio S. hätte weitere Kinder entführt, missbraucht und ermordet, wäre er nicht durch seine Festnahme gestoppt worden. Er forderte deshalb die Sicherungsverwahrung. Ohne Erfolg.
"Nicht mit dem rechtlich gebotenen Tiefgang erörtert"
Zufrieden mit dem Urteil des Potsdamer Landgerichts sind deshalb weder die Verteidigung noch die Staatsanwaltschaft. Beide legten - aus unterschiedlichen Gründen - Revision ein. Die Revision von Silvio S. wurde bereits im April als unbegründet abgewiesen, mehr Aussichten auf Erfolg könnte nun der Antrag der Anklage auf Anordnung von Sicherungsverwahrung haben, der auch von der Bundesanwaltschaft unterstützt wird. Laut einem Bericht des Tagesspiegels schätzt der Generalbundesanwalt die Chancen auf eine Revision als gut ein, weil das Gericht in Potsdam den Hang des Angeklagten zu Gewalttaten gegen Kinder "nicht mit dem rechtlich gebotenen Tiefgang erörtert hat". Demnach ist das Urteil in Bezug auf die Sicherungsverwahrung "lückenhaft".
Die Sicherungsverwahrung ist für besonders gefährliche Straftäter gedacht, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, aber dennoch im Gefängnis bleiben sollen - um die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen. Laut Paragraf 66 Strafgesetzbuch kann sie auch dann verhängt werden, wenn jemand für zwei Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt wird und die Gesamtwürdigung von Tat und Täter ergibt, dass er "infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten ... zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist". Aber ist das bei Silvio S. der Fall?
Der psychiatrische Sachverständige sah vor einem Jahr keine ausreichende Grundlage für eine Sicherungsverwahrung: "Den Hang zu gefährlichen Straftaten kann ich nicht bejahen", erklärte er vor Gericht. Für ihn war Silvio S. sein ganzes Leben lang ein Außenseiter, der ein Bedürfnis nach Nähe gehabt habe. Demnach sei er auch nicht pädophil. Die beiden Kinder habe er vor allem aus einem Grund als Opfer ausgewählt - weil sie wehrlos waren. Das Landgericht Potsdam schloss sich dem an. Die reine Möglichkeit einer weiteren vergleichbaren Straftat reiche für eine Sicherungsverwahrung nicht aus, hieß es damals. Nun muss der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs klären, ob in Potsdam ein Fehler gemacht wurde.