Wer mit der Heimat zufrieden ist, hält die Ferne für verzichtbar. Für Japans Nationalisten und Auslandsverächter war es deshalb sicher keine schlechte Nachricht, als das Außenministerium in Tokio vergangene Woche die aktuelle Reisepassquote bekannt gab. Demnach haben nur 16,8 Prozent der rund 124 Millionen Menschen in Japan einen gültigen Nationalausweis, mit dem sie die Welt bereisen können. Die große Mehrheit scheint diese Möglichkeit nicht zu brauchen. Weil es so schön ist in Japan?
So einfach ist es nicht. Und vielen im Inselstaat dämmert längst, dass diese Neigung, sich das Ausland allenfalls im Internet anzusehen, nachhaltige Probleme bringen kann. Die Welt ist nun mal viel größer als Japan, und die harmoniebedürftige Nation kann sich ihr nicht verschließen. Seit dem Ende der Pandemie kommen wieder viele Touristen ins Land. Immer wieder entsteht dabei der Eindruck, dass Einheimische überfordert sind mit den anderen Sprachen und Temperamenten, denen sie sich selbst kaum ausgesetzt haben.
Dabei stimmen die Voraussetzungen für Auslandserfahrungen – zumindest wenn man einen Pass hat. Im neuesten Henley Passport Index, einer Weltrangliste für Reisedokumente, liegt zwar weiterhin der unschlagbare Pass aus Singapur an der Spitze; dessen Inhaber können in 193 Länder reisen, ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen. Aber Japans Pass teilt sich mit den Papieren aus Südkorea Platz zwei (190 Länder), gefolgt von einer Gruppe aus Europa, zu der auch der deutsche Pass zählt (189).
Gegen das Reisen wiederum sprechen für viele Japaner Zeit und Geld. Sie haben weniger Urlaub als etwa Arbeitnehmer in Deutschland. Und weil der Yen schwach ist, sind Auslandsaufenthalte für sie gerade besonders teuer. Dazu kommt wohl auch, dass die Neugier auf etwas Neues nicht groß genug ist, um die Ängste vor den Unwägbarkeiten der Fremde zu vertreiben. In Straßeninterviews des Senders TV Asahi sagt eine junge Frau zu den Kosten der Auslandserfahrung: „Ich glaube nicht, dass es das wert ist.“
In Japan hatten schon in den 2010er-Jahren nie mehr als 24 Prozent der Menschen einen Reisepass. Dann kam die Pandemie. Japans Grenzen waren für Touristen fast drei Jahre lang dicht. Das scheint die Angst vor der Ferne mehr geschürt zu haben als die Sehnsucht danach. Und nicht nur die Lust auf Ferien woanders fehlt. Laut der staatlichen Organisation für studentische Angelegenheiten studieren immer weniger Japaner im Ausland. 2004 taten das 82 945, im Jahr 2022 nur noch 41 612. Dafür steige die Zahl der ausländischen Studierenden in Japan.
Bedenkenträger mahnen, dass Reisen und Austausch wichtig für die Heimat seien. Zum Beispiel Hiroyuki Takahashi, der Vorsitzende des japanischen Reisebüroverbands (Jata). In der Japan Times mahnt er, dass zu wenige reisende Jugendliche zum Problem würden, „wenn es darum geht, Personal mit internationaler Denkweise zu entwickeln, das Japan voranbringen kann“.
Was tun? Takahashi fordert die Regierung auf, Auslandsaufenthalte von jungen Leuten zu fördern. Zum Beispiel indem sie kostenlose Pässe spendiert. Aber ob das reicht? Man muss ja auch Lust darauf haben, aus der heimischen Komfortzone herauszukommen.