Regionale Unterschiede in der Rechtsprechung:Hartes Bayern, milder Norden

Regionale Unterschiede in der Rechtsprechung: Ob und wie lange ein Delinquent ins Gefängnis muss - im Bild eine KFZ-Werkstatt in der JVA Plötzensee in Berlin -, wird in den einzelnen Gerichtsbezirken sehr unterschiedlich gehandhabt.

Ob und wie lange ein Delinquent ins Gefängnis muss - im Bild eine KFZ-Werkstatt in der JVA Plötzensee in Berlin -, wird in den einzelnen Gerichtsbezirken sehr unterschiedlich gehandhabt.

(Foto: John MACDOUGALL/AFP)

Wie schwer eine Strafe ausfällt, hängt auch davon ab, in welchem Bundesland sie verhängt wird. Juristen debattieren nun, ob das gerecht ist. Ein Vorbild für eine Reform böten die USA.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

In diesem langen, trockenen Sommer hat man, aufmerksamer als sonst, die Niederschlagskarten betrachtet. Beträchtliche regionale Unterschiede waren augenfällig, aber auch nachvollziehbar: Dass es an den Alpen und im Schwarzwald mehr regnet als in, sagen wir, Brandenburg, leuchtet auch dem Laien ein. Solche Karten gibt es auch für die Strafjustiz, aber die sind nicht so bekannt. Färbt man Regionen umso dunkler ein, je höher dort die Strafen ausfallen, dann sind Bayern und Südhessen ziemlich schwarz, wohingegen in Baden und vielen Regionen Norddeutschlands die hellen Töne dominieren.

Von Mittwoch an befasst sich der 72. Deutsche Juristentag in Leipzig mit diesem Thema, das gar nicht so ganz neu ist. Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts förderten Studien regionale Unterschiede bei der Höhe der Strafen bei gleicher Ausgangslage zutage, spätere Untersuchungen bestätigten den Befund. Bayerische Härte, norddeutsche Nachsicht? Eine neue Studie von Volker Grundies vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht - aus der auch die hell-dunkle Strafenkarte stammt - zeigt, dass es nicht allein um Bundesländer geht, sondern um Gerichtsbezirke: In knapp einem Fünftel dieser Bezirke weichen die Strafen vom Bundesdurchschnitt um mindestens zehn Prozent nach unten und in einem weiteren Fünftel um zehn Prozent nach oben ab. So läge bei einem Delikt, für das im Durchschnitt zwei Jahre verhängt werden, der mildeste Bezirk bei 19 und der strengste bei 31 Monaten - eine Differenz von einem Jahr Gefängnis.

In diesen Gerichtsbezirken haben sich lokale Justizkulturen von bisweilen großer Beständigkeit entwickelt. 1969 verglich eine Studie Urteile an drei Landgerichtsstandorten: In Koblenz fielen sie am mildesten, in München am härtesten aus, Frankfurt lag in der Mitte. Die Studie von Grundies kommt ein halbes Jahrhundert später zum selben Resultat: Koblenz liegt im Bundesschnitt, Frankfurt um 17 und München um 25 Prozent darüber.

Die regionalen Unterschiede haben sicher auch psychologische Wurzeln. Der Mensch sucht, je mehr Spielraum er hat, umso stärker nach Orientierung. Das gilt auch für Richter, sie schielen gern auf die lokal üblichen "Straftarife". Die Neuen schauen, wie es die Alten machen, sodass sich eine einmal etablierte Strafpraxis fortschreibt. Noch wirkungsvoller dürfte aber die Justizhierarchie sein: Wer befördert werden will, muss alles "richtig" machen. Wer in einem "harten" Gerichtsbezirk als milder Richter auffällt, tut sich schwerer als einer, der mitzieht.

Der Gutachter in der Juristentags-Abteilung Strafrecht, der Augsburger Professor Johannes Kaspar, hat sich nun Gedanken darüber gemacht, wie man ein wenig Ordnung in dieses föderale Tohuwabohu bringen könnte. Ansatzpunkt seiner Überlegungen sind die US-amerikanischen "Sentencing Guidelines", eine Art Richter-Skala, nur ohne Beben. Für die "Schwere der Tat" gibt es 43 Stufen, für die "Vorstrafenbelastung" sechs. Daraus lässt sich ein Korridor für den konkreten Fall extrahieren, der sehr viel enger ist als es unsere abstrakten Strafrahmen in Deutschland sind, wo der Diebstahl mit Geldstrafe beginnt und mit fünf Jahren Haft endet.

Nun stellt Kaspar klar, dass er einen Direktimport der "Guidelines" - die seit einem Supreme-Court-Urteil von 2005 auch in den USA nur noch "beratend" herangezogen werden dürfen - für keine gute Idee hält. Die Motive, die Umstände und Folgen eines Verbrechens sind von Fall zu Fall so verschieden, dass ein Urteil per Formblatt, in dem man nur noch Häkchen setzen muss, vermutlich mehr Ungerechtigkeit produzieren würde als die Bayern-Baden-Kluft beim Strafmaß. Kaspar möchte lieber ein paar Reformen innerhalb des bisherigen Systems anstoßen: die Strafrahmen feiner abstufen oder, ein weiterer Vorschlag, eine Expertenkommission zur Erarbeitung von Empfehlungen einsetzen.

Woran sollte man Schuld messen?

Kaspars Kritik am deutschen Strafsystem geht jedoch tiefer, sie richtet sich auf den Zweck der Strafe. Zum "Strafzweck" gibt es zahlreiche Theorien - vorherrschend ist die Idee vom Schuldausgleich. Grundlage der Strafzumessung seien die "Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters", so hat es der Bundesgerichtshof formuliert. Aus Kaspars Sicht ist das zu weit und zu unbestimmt: Woran sollte man Schuld messen? Er möchte weitere Elemente ins Spiel bringen, insbesondere die "Straferwartungen der Bevölkerung". Schon jetzt ist absehbar, dass er dafür beim Juristentag Gegenwind bekommen wird: Das, was die Allgemeinheit für eine gerechte Strafe hält, ist starken Schwankungen unterworfen - derzeit mit einer klaren Tendenz zu mehr Härte.

Jedenfalls dürfte der Gutachter eine spannende Diskussion zur "gerechten Strafe" angestoßen haben. Die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage lautet: Wäre es wirklich gerechter, wenn die Strafzumessung im Norden wie im Süden schematisiert würde? Oder liegt "Gerechtigkeit" nicht auch darin, dass Richterinnen und Richter eben gerade nicht an starre Vorgaben gebunden sind? Wie gravierend sind die Folgen für die Betroffenen, wie groß ist die Schuld eines Täters , wie aussichtsreich die Erwartung, dass er wieder auf den rechten Weg findet? Das ist keine Rechenaufgabe, sondern erfordert eine persönliche Wertung durch Richter, die den Angeklagten ein paar Verhandlungstage lang beobachten, die Zeugen befragen, Opfer anhören, Gutachten wälzen. Für den BGH-Richter Andreas Mosbacher hat das etwas mit Menschenwürde zu tun: Strafen dürften nicht abstrakt verhängt werden, sondern in der Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten.

Und der bundesdeutsche Strafenteppich? Die Teilnehmer der Abteilung Strafrecht setzen eher auf fundierte Ausbildung, vertiefte Forschung, vielleicht auch auf eine zentrale Datenbank zur Strafzumessung, um Angleichungen voranzubringen. Damit das regionale Urteils-Patchwork nicht zu bunt wird.

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