Süddeutsche Zeitung

Reform des Sexualstrafrechts:"Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch schlagen, kratzen, beißen muss"

"Nein heißt Nein" gilt im deutschen Sexualstrafrecht nicht, zeigt der Fall Gina-Lisa Lohfink. Die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes erklärt, warum erst jetzt ein Umdenken stattfindet.

Interview: Hannah Beitzer

"Hör auf", sagt die Frau in dem Video. Mehrmals. Sie wirkt weggetreten, völlig neben sich. Eine Million mal klickten Besucher der Webseite Pornohub den Clip, in dem zwei Männer sie - ja, was eigentlich? Eine Vergewaltigung ist das jedenfalls nicht, was dem Model Gina-Lisa Lohfink da passiert. Das hat ein Gericht jedenfalls so entschieden. Stattdessen steht Lohfink selbst wegen Falschbeschuldigung vor Gericht.

Erst an diesem Freitag löschte Pornhub das Video. Die Diskussion ist jedoch bereits in vollem Gange. Denn tatsächlich genügt ein "Nein" im deutschen Strafrecht nicht für eine Vergewaltigung. Ein Unding, findet Richterin Ramona Pisal, Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes und Mitglied im Netzwerk "Nein heißt Nein".

SZ: Nach der Silvesternacht von Köln war der Schock groß, dass Grabschen nicht strafbar ist. Auch der Fall Gina-Lisa Lohfink offenbart jetzt, dass ein "Hör auf" offenbar nicht genügt, damit Sex als Vergewaltigung gilt. Ändert sich gerade die Einstellung der Deutschen zu sexueller Gewalt gegen Frauen?

Ramona Pisal: Jedenfalls fällt auf, dass sexuelle und sexualisierte Gewalt gegen Frauen stärker in den Fokus öffentlicher Wahrnehmung gerückt sind. Eigentlich ist es bedauernswert, dass es dafür diese Anlässe überhaupt braucht. Die Diskussion über sexuelle Gewalt gibt es ja schon viel länger. Auch ein Entwurf des Bundesjustizministers zur Reform des Sexualstrafrechts, der den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verbessert soll, liegt schon seit fast einem Jahr vor. Die dazu Anlass gebenden Zahlen und Statistiken kennen wir seit Jahrzehnten.

Warum entfalten Zahlen zu sexueller Gewalt nicht dieselbe Wirkung wie einzelne, medienwirksame Ereignisse?

Es sind sehr oft die spektakulären Einzelfälle, die gerade im Strafrecht den öffentlichen Diskurs in Gang setzen. Abstrakte rechtliche Überlegungen und nüchterne Statistiken lösen nur selten Emotionen aus. Das Thema braucht ein Gesicht.

Weil nur so die Tragweite des Problems klar wird?

Gewalt gegen Frauen - sexuelle Gewalt zumal - ist auch in unserer Gesellschaft tabuisiert. Eigentlich weiß jeder, dass der vermeintlich klassische Fall von Vergewaltigung - eine Frau wird auf einem dunklen Feldweg von einem unbekannten Mann überfallen und zum Sex gezwungen - die Ausnahme ist. Das gefährlichste Feld für Frauen ist ihr sozialer Nahbereich. Niemand mag aber aussprechen, dass die Täter für gewöhnlich Familienmitglieder, Freunde, Bekannte sind. Das betrifft und beschämt uns alle, wir schauen lieber weg und schweigen.

Das war auch ein Grund, warum Vergewaltigung in der Ehe so lange nicht strafbar war. Natürlich wussten alle, dass es Ehemänner gibt, die ihre Frauen zum Sex zwingen. Da wollte sich aber niemand einmischen, das war Privatsache. Und es schwingt auch heute noch mit, dass Frauen, die sich mit bestimmten Männern einlassen, damit eben klarkommen müssen, nach dem Motto: selbst schuld. Das ist ein Mechanismus, der immer noch greift - vermutlich auch bei Fällen wie dem von Gina-Lisa Lohfink, den ich im einzelnen nicht kenne.

Wie kommt es dann zum Umdenken?

Der spektakuläre Einzelfall, die Tat des oder der "anderen", bietet häufig die Gelegenheit zur längst überfälligen Diskussion. Bis es soweit ist, wird gerade häusliche Gewalt und sexuelle Gewalt ausgeblendet, als Ausnahme oder als Privatangelegenheit marginalisiert. "So etwas" tun immer nur "andere".

Wäre die Diskussion um die Silvesternacht in Köln denn anders ausgefallen, wenn es mehrheitlich Täter deutscher Hekunft gewesen wären?

Am Beispiel der Vorfälle in der Silvesternacht zeigt sich sehr deutlich, dass das Problem erst dann nicht mehr kleingeredet wurde, als man das Gefühl hatte, man müsse die "eigenen Frauen" gegen "fremde Männer" verteidigen. Dabei schien nicht immer die sexuelle Selbstbestimmung der geschädigten Frauen im Mittelpunkt zu stehen. Das ist schon bitter. Denn wir haben genügend Gründe, vor der eigenen Haustür zu kehren. Es gab schon immer und in großem Umfang tätliche sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, in Bussen, in Bahnen, auf Volksfesten.

Ohne die Vorfälle in Köln aber hätte diese überfällige Debatte nie eine solche Wucht entfaltet. Erst nach Silvester wird vehement gefordert, das sogenannte Grabschen im Entwurf zur Reform des Sexualstrafrechts zu berücksichtigen, und das wird wohl auch umgesetzt werden.

Der Grundsatz "Nein heißt Nein" hingegen, der jetzt im Fall Gina-Lisa wieder diskutiert wird, taucht dort nicht auf.

Bislang nicht, aber auch daran arbeiten die Abgeordneten. Die Zeit ist reif und es gibt jetzt die Gelegenheit, unser Strafrecht zu modernisieren und den Grundsatz "Nein heißt Nein" zum lückenlosen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung zu implementieren. Ich bin sehr froh, dass Frauen und Männer im Bundestag sich parteiübergreifend dafür stark machen, denn es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens, den unter anderem ein Aktionsbündnis abbildet, dem auch der Deutsche Juristinnenbund (djb) angehört.

Köln war ein Auslöser für die jetzt angedachten Gesetzesänderungen. Gibt es noch andere Gründe, warum das Justizministerium jetzt aktiv wurde?

Ja. Deutschland hat schon 2011 die Istanbul-Konvention des Europarats unterschrieben. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten in Artikel 36, nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen. Um die Istanbul-Konvention ratifizieren zu können, muss die Rechtslage im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs - Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung - diesem Erfordernis angepasst und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ohne Einschränkung geschützt werden. Das ist bislang nicht der Fall.

Was ist denn das Problem an der bisher gültigen Rechtslage?

Nach geltendem Recht ist erzwungener Sex nur unter bestimmten Bedingungen strafbar. Wenn der Mann Gewalt anwendet und körperliche Widerstände überwindet. Wenn er das Opfer durch schwere Bedrohungen gegen Leib und Leben zur Duldung der Übergriffe nötigt. Wenn er dessen schutzlose Lage ausnutzt oder wenn er eine per se widerstandsunfähige Person missbraucht.

Ein klar geäußerter, entgegenstehender Wille einer an sich widerstandsfähigen Person reicht nicht aus. Aber es kann doch nicht sein, dass ein Mensch schlagen, kratzen, beißen muss, um seine sexuelle Selbstbestimmung aktiv zu verteidigen. Es muss reichen, wenn ich klar erkennbar zum Ausdruck bringe: Ich will das nicht!

Auch im Fall Gina-Lisa Lohfink waren sich viele juristische Laien, die das Video gesehen haben, sicher, eine Straftat zu sehen. Denn sie hat doch "Nein" gesagt.

Man darf nicht vergessen, dass unser Strafrecht sehr alt ist. Es entstand Ende des 19. Jahrhunderts und wurde von Männern gemacht. Juristinnen, Rechtswissenschaftlerinnen, weibliche Abgeordnete gab es nicht. Das wirkt bis heute fort, auch wenn inzwischen Frauen an der Weiterentwicklung des Strafrechts in jeder Beziehung aktiv beteiligt sind.

Wie wirkt sich dieser männlich dominerte Blickwinkel auf das Strafrecht aus?

Aus männlicher Perspektive mag es seltsam anmuten, wenn sich ein Mensch bei einem schweren Angriff wie einer Vergewaltigung nicht entschieden körperlich wehrt. Ob biologisch bedingt oder anerzogen: Männer setzen sich im allgemeinen eher als Frauen gegen Übergriffe körperlich zur Wehr, sie verhalten sich anders. Sie können sich vielleicht schwer vorstellen, dass man bei einem Angriff in Schockstarre verfällt und selbst dann Angst hat und Übergriffe duldet, wenn der zudem meist körperlich überlegene Gegner nicht unmittelbar schwerste Drohungen ausspricht.

Die Gegner von "Nein heißt Nein" argumentieren, dass ein verbales Nein vor Gericht schwer nachweisbar sei. Sie fürchten außerdem Falschbeschuldigungen.

Für mich ist das ein typischer Abwehrmechanismus.

Inwiefern?

Andere Vorwürfe sind vor Gericht ebenfalls schwer zu beweisen - auch nach derzeitiger Rechtslage. Das betrifft zum Beispiel die schwere Drohung gegen Leib und Leben, mit deren Hilfe der Geschlechtsverkehr erzwungen wird. Auch hier sind es nur Worte, es gibt keine weiteren Zeugen, und das Opfer zeigt keine körperlichen Spuren, die auf Unfreiwilligkeit hindeuten.

Dass es gerade durch "Nein heißt Nein" zu einem Anstieg an Falschbeschuldigungen kommt, denke ich nicht. Schon heute gehen die Menschen von einer Vergewaltigung aus, wenn die Frau vernehmlich "Nein" sagt. Frauen zeigen solche Übergriffe auch jetzt schon an und sind dann sehr überrascht, wenn sie erfahren, dass ein "Nein" nicht ausreicht.

Weil das gegen ihr natürliches Rechtsempfinden verstößt?

Stellen Sie sich die jetzige Rechtslage doch einmal übertragen auf andere Straftatbestände vor: Wenn Sie in einen Laden gehen, einfach ein Buch aus dem Regal nehmen und damit verschwinden, dann ist das ein Diebstahl. Der Verkäufer muss sich nicht dazwischen werfen, Sie nicht mit Gewalt versuchen daran zu hindern, es ist und bleibt ein Diebstahl, auch wenn nichts und niemand das Buch gegen die Wegnahme schützt.

Sie werden keinen einzigen anderen Straftatbestand finden, der vom Geschädigten fordert, ein geschütztes Rechtsgut noch einmal extra zu verteidigen und Widerstand zu leisten. Aber genau so ist es bislang bei der sexuellen Selbstbestimmung, und das muss sich dringend ändern.

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