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Rechtsempfinden in Deutschland:Versteh einer die Juristen

Viele Menschen hierzulande vertrauen der Justiz - aber dieses Vertrauen hat Grenzen. Eine Mehrheit findet, dass Verfahren zu lange dauern, Gesetze zu kompliziert sind und Strafen zu milde ausfallen. Aber stimmt das überhaupt?

Von Wolfgang Janisch

Die Mehrheit der Deutschen hat großes Vertrauen in die Justiz - eigentlich. So steht es im Roland Rechtsreport 2018, einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie in Allensbach unter fast 1500 Befragten. Liest man allerdings genauer, erkennt man das bröckelnde Vertrauen: Die Verfahren sind zu lang, die Strafen zu milde, die Gesetze unverständlich, meinen viele Deutsche. Stimmen diese hartnäckigen Vorurteile über die Justiz?

Erster Kritikpunkt: "Die Urteile der deutschen Gerichte sind oft zu milde."

Mehr als die Hälfte der Befragten sind dieser Meinung. Wie kommt man dazu, ein Urteil als zu milde einzustufen? Es ist eine Art intuitiver Abgleich, der eine Sanktion neben einem abscheulichen Verbrechen irgendwie mickrig aussehen lässt. Ein Beispiel: Ein junger Mann hatte 2016 seine Ex-Freundin in ihrer Wohnung gefangen gehalten, mehrfach zum Oralverkehr gezwungen und vergewaltigt - ein Martyrium von elf Stunden. Das Gericht ließ den Mann trotzdem mit einer Bewährungsstrafe davonkommen, trotz Vorstrafe. Das ist skandalös wenig, da stimmt erst einmal jeder zu.

Matthias Jahn, Professor für Strafrecht in Frankfurt und zugleich Richter am dortigen Oberlandesgericht ist trotzdem nicht der Ansicht, dass die Strafen im Allgemeinen zu niedrig sind. Er fragt zunächst nach dem "Bezugspunkt" solcher Einschätzungen - und hat eine interessante Erfahrung gemacht: "Je weniger man über ein Verfahren weiß, desto mehr ist man geneigt, eine Strafe für zu milde zu halten." Und meist weiß man eben wenig: Man hat 90 Zeilen in der Zeitung gelesen oder 90 Sekunden im Fernsehen gesehen, vielleicht mit Bildern des gezeichneten Opfers. Die Richter haben dagegen die Akten gelesen, die Zeugen verhört, dem Angeklagten und dem Opfer ins Gesicht gesehen, wochen- oder sogar monatelang. Und wenn man im erwähnten Vergewaltigungsprozess weiß, dass der Mann nur eingeschränkt schuldfähig war, dass er 10 000 Euro Schmerzensgeld aufgebracht hat, die sonst kein Gerichtsvollzieher je bei dem notorisch klammen Mann hätte eintreiben können, dass er geständig war und damit der Frau einen quälenden Aussage-gegen-Aussage-Prozess mit ungewissem Ausgang erspart hat, dann wird man das Urteil vielleicht nicht mehr für einen großen, sondern allenfalls noch für einen kleinen Skandal halten. Und wenn man dann noch erfährt, dass die milde Strafe Resultat einer Verständigung war, dann kommt man ins Grübeln - denn der Staatsanwalt und das Opfer haben zugestimmt.

Natürlich gibt es zu milde Strafen. Manchmal sagt die Justiz dies sogar selbst, etwa, als der Bundesgerichtshof die Bewährungsstrafe gegen die Raser von Köln aufhob, die eine Studentin totgefahren haben. Aber unsere eigene Einschätzung, ein Urteil sei zu milde, bewegt sich meist auf dem schwankenden Boden einer emotionalisierenden Medienberichterstattung. Wir wissen zu wenig und fühlen zu viel.

Aber würden härtere Strafen nicht doch für mehr Sicherheit sorgen? Für eine effektivere Abschreckung, die potenzielle Täter von Verbrechen abhält? Auch hier legt sich Jahn auf ein klares Nein fest: "Mehr Sanktionen bringen nicht mehr Prävention. Das sagen die Zahlen." Es gibt ein paar Ausnahmen: Wirtschaftskriminelle beispielsweise kalkulieren etwas rationaler - wobei die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, deutlich wirkungsvoller ist als die Höhe der drohenden Strafe. Aber meistens gilt: "Die Strafe verpufft." Eine Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts hat untersucht, ob eher Geldstrafen oder doch die härteren Freiheitsstrafen Rückfälle verhindern. Resultat: Es besteht kein Unterschied. Beides wirkt gleich gut. Oder gleich schlecht.

Und was ist mit dem Rechtsempfinden? Der BGH hat im Kölner Raserfall angemahnt, Strafgerichte müssten sich Gedanken darüber machen, wie sich eine Strafaussetzung zur Bewährung "auf das allgemeine Rechtsempfinden" auswirkt. Das ist allerdings ein gefährlicher Pfad. Rechtsempfinden, das ist auch der blinde Zorn, der uns packt, wenn wir von einem furchtbaren Sexualmord an einem Kind hören. Das ist menschlich nachvollziehbar, aber kann im Rechtsstaat nicht Leitlinie sein, weil der Zorn maßlos ist: Es wäre die Rückkehr zur Rache - Aug' um Auge.

Zweiter Kritikpunkt: "Viele Verfahren dauern zu lange, die Gerichte sind überlastet."

83 Prozent klagen über zu lange Verfahren, fast 80 Prozent halten die Gerichte für überlastet - und beide Werte sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Muss also was dran sein, oder?

Die Statistik spricht erst einmal dagegen. Im EU-Justizbarometer liegt Deutschland bei den Zivil- und Handelsprozessen mit knapp 200 Tagen für die erste Instanz im guten Mittelfeld. Nimmt man die Amtsgerichte, an denen das Massengeschäft anlandet, dann ist fast die Hälfte der zivilrechtlichen Fälle in drei Monaten erledigt und etwa 90 Prozent innerhalb eines Jahres. Auch bei den Landgerichten, also eine Etage höher, werden drei Viertel der erstinstanzlichen Verfahren binnen Jahresfrist fertig. Das klingt nach Entwarnung. "Schneller als in Deutschland geht das nicht", meint Jörg Elsner, Fachanwalt für Verkehrsrecht. Haftungsprozesse nach Autounfällen schließe er meist nach neun bis zwölf Monaten ab.

Aber natürlich weiß jeder: Es gibt die notorischen Endlosverfahren - und ganz oben auf der Liste stehen Bauprozesse und Arzthaftungsklagen. In ihnen geht es um viel Geld, es stellen sich komplizierte Beweis- und Kausalitätsfragen, ein Gutachten jagt das nächste. Eine Studie in drei Gerichtsbezirken, die sich mit den Ursachen sehr lange dauernder Verfahren beschäftigt hat, kam zu dem Ergebnis: Ein schriftliches Gutachten zieht die Sache um fast sieben Monate in die Länge. Auch deshalb, weil gute Sachverständige oft den Aufträgen nicht hinterherkommen und gerichtliche Fristen nicht einhalten können. Hinzu kommt eine hausgemachte Verfahrensbremse. In mehr als der Hälfte der untersuchten Dauerprozesse wurde die Sache in die Länge gezogen, weil der zuständige Richter gewechselt hat. Ein Problem der Organisation, weniger der Überlastung.

Aber ist nicht doch die Überlastung der Gerichte der eigentliche Sand im Getriebe? Wie groß ist die Last überhaupt?

Der Deutsche Richterbund beklagt seit Jahren 2000 fehlende Richterstellen, eine Lücke, die sich aus der offiziellen Personalbedarfsberechnung mit dem hübschen Namen "Pebb§y" ergebe. Die Zahl hat es inzwischen in den Koalitionsvertrag geschafft, dort sind 2000 Richterstellen zugesagt. Besonders stark unter Druck stehen derzeit die Verwaltungsgerichte wegen der zahlreichen Asylverfahren.

Es gibt da aber noch ein paar andere Zahlen. Bei den Zivilverfahren erleidet die Justiz seit Jahren einen geradezu schwindelerregenden Schwund. Bei den Amtsgerichten ist die Zahl der jährlich eingehenden Klagen seit 2004 von 1,5 Millionen auf deutlich unter eine Million abgestürzt, bei den Landgerichten sieht es im selben Zeitraum nicht anders aus: von 440 000 auf etwa 300 000. Die Zahl der Richter dagegen ist konstant geblieben, die Dauer der Verfahren ebenfalls. Was ist da los?

Gewiss, Statistik ist nicht alles. Viele Verfahren wandern an Schiedsgerichte und Schlichtungsstellen ab, aber die schwierigen Fälle bleiben und werden aufwendiger. Außerdem werden der Justiz gern neue Aufgaben aufgebürdet. Aber richtig ist auch: Ganz so dramatisch kann es mit der Überlastung nicht sein.

Der Mythos von der Überlastung der Gerichte ist übrigens alt, sehr alt: 1957 überschrieb ein Richter einen Beitrag in der Deutschen Richterzeitung mit der Überschrift "Die Überlastung des Richters" - um dann kräftig zu spotten. Er habe den Eindruck, "dass die Überlastung nicht so sehr in einem Missverhältnis zwischen viel Arbeit und wenig Zeit besteht als in einer falschen geistig-seelischen Haltung gegenüber der Arbeit. Es ist, als komme der lähmende Überdruck nicht von außen, sondern von innen".

Dritter Kritikpunkt: "Die Gesetze in Deutschland sind viel zu kompliziert, das versteht man als normaler Bürger überhaupt nicht."

Mehr als die Hälfte der Befragten hält die Gesetze für zu kompliziert. Mag sein, dass sie nun verstärkt darauf hoffen, dass Friedrich Merz in die Politik zurückkehrt, obwohl er im Rennen um den CDU-Parteivorsitz gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlegen ist. Merz wollte 2003 die Steuererklärung auf Bierdeckelgröße schrumpfen. Ähnliches plante der Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof, er wollte 33 000 Steuerparagrafen auf 146 reduzieren. Hat nicht geklappt. Warum nicht?

Die Antwort ist einfach: Alle wollen ein einfacheres Steuerrecht, aber jeder will seinen Laptop von der Steuer absetzen und die Pendlerpauschale einstreichen. Das widerspricht sich. Entweder, man schreibt drei Steuersätze auf einen Bierdeckel und nimmt hin, dass die individuellen Ausgaben von der Pauschalierung untergepflügt werden. Oder man will, dass der Griff des Fiskus auch den Einzelfall berücksichtigt - dann wird es halt kompliziert.

Aber die Wahrnehmung ist schon richtig: Als Normalbürger versteht man die meisten Gesetze nicht. Auf Monstersubstantive in der Überschrift - Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz oder Umsatzsteuerschlüsselzahlenfestsetzungsverordnung - folgen Schachtelsätze und Querverweise. Seit bald zehn Jahren müht sich ein von der Bundesregierung eingesetzter "Redaktionsstab Rechtssprache", das Schlimmste zu verhindern, mit einigen Erfolgen. Trotzdem wird die Zeit der Zehn Gebote nicht mehr zurückkommen.

Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Welt komplexer geworden ist. Das fängt schon im Familienrecht an. In der frühen Bundesrepublik ging es im Wesentlichen um verheiratete Eltern und eheliche Kinder. Heute dagegen: Unverheiratete Paare, Patchworkfamilien, homosexuelle Partnerschaften, binationale Ehen, künstliche Befruchtung, Leihmütter im Ausland. Die Welt dreht sich weiter, das Recht muss hinterher. Oder nehmen wir Europa: Wer einmal in einem Wettbewerbsprozess sitzt, der bekommt es mit einem ganzen Schwarm aus deutschen Paragrafen und europäischen Richtlinien zu tun, die alle irgendwie miteinander verschränkt werden müssen. Da ist Komplexität der Preis der europäischen Integration.

Zweitens: Natürlich könnte man vieles vereinfachen, im Wirtschaftsleben etwa. Die Frage ist nur, ob man das will - weniger Arbeitsschutz zum Beispiel oder einen Abbau im Sozialsystem. Weniger Gesetze bedeutet mehr freies Spiel der Kräfte. "Wer Einfachheit will, muss Freiheit zulassen. Die Kehrseite von mehr Freiheit ist mehr Ungleichheit", schrieb vor einigen Jahren das Wirtschaftsmagazin Brand eins. Von dem Merzschen Bierdeckel hätten vermutlich Wirtschaftsanwälte, wie er selbst einer geworden ist, deutlich stärker profitiert als Krankenpflegerinnen.

Und drittens: Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass Gesetze vor allem für Profis gemacht sind - für Richter und Rechtsanwälte. Die können mit Schachtelsätzen und Substantivierungen umgehen, weil sich dahinter eine hohe Präzision verbirgt. Aber eben nur, wenn es gut gemacht ist, was in der Hast des politischen Kompromisses oft genug misslingt und bei den Gerichten weitere Komplizierungen produziert. Wären die Gesetze handwerklich sauberer gearbeitet - dann würde man ihre Unverständlichkeit wohl eher verzeihen.

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Quelle:
SZ vom 29.12.2018/olkl
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