Rechercheprojekt #Kunstjagd:Wie gelang die Flucht aus Nazi-Deutschland?

Kunstjagd

Projekt #Kunstjagd: Die Geschichte der Engelbergs - ist heute noch zu rekonstruieren, was geschehen ist, nachdem die Gestapo Vater Jakob 1938 ins KZ Dachau gebracht hat? (Illustration)

(Foto: Follow the Money)

November 1938: Die Gestapo bringt Jakob Engelberg ins KZ Dachau. 15 Tage später kommt er frei, die Familie kann fliehen - offenbar dank eines Gemäldes. Was genau geschehen ist, fragen sich die Engelbergs bis heute.

Internationales Rechercheprojekt - Woche 1 von 6

Es ist kein Hämmern an der Wohnungstür, eher ein sachliches Klopfen, das die Kindheit von Edward Engelberg beendet.

Eigentlich müsste der neunjährige Junge in der Schule sein, aber schon auf dem kurzen Weg dorthin sieht Edward in seiner Heimatstadt München überall zerbrochene Scheiben, Scherben und Hakenkreuze an den Wänden. Als er um die Ecke biegt, erblickt er die zerstörte Synagoge Ohel Jakob, zu der seine Schule gehört. Der "Stoßtrupp Adolf Hitler", eine Keimzelle der SS, hat die Gebäude in der Nacht verwüstet.

Das Projekt

Im Mittelpunkt des Projekts #Kunstjagd steht die Suche nach einem verschollenen Gemälde der Familie Engelberg. SZ.de begleitet die Recherchen in einem 360°-Schwerpunkt, in dem wir über Fortschritte informieren und den historischen Hintergrund beleuchten Die #Kunstjagd ist ein Projekt des Rechercheteams "Follow the Money" (FtM) sowie der Filmproduktion Gebrüder Beetz und den Medienpartnern BR, Deutschlandradio Kultur, ORF, SRF, Der Standard, Rheinische Post und SZ.de. Mehr auf www.kunstjagd.com und www.sz.de/kunstjagd.

Noch lodern die Flammen. Die Feuerwehr steht daneben und schaut zu, besprüht nur die umliegenden Häuser, damit das Feuer nicht übergreift. Ein Lehrer hält den Jungen auf, sagt ihm, er solle keine Fragen stellen, sondern rasch nach Hause laufen, bloß weg von hier. Edward versteht nicht, was los ist, aber er rennt, so schnell er kann.

Kaum ist er zu Hause, klopft es an der Tür. Edwards Vater, Jakob Engelberg, öffnet. Zwei Gestapo-Männer in Zivil betreten die Wohnung. Ausgesucht höflich bitten sie den jüdischen Kaufmann, seine Sachen zu packen. Man müsse ihn zu seinem eigenen Schutz mitnehmen. Er solle auch an Taschentücher denken, rät ihm einer der Geheimpolizisten.

Jakob Engelberg gehorcht - was soll er auch tun?

Er packt rasch, dann verabschiedet er sich von seiner Familie. Die fremden Männer, die den Vater holen, verbeugen sich. Dann sind sie weg. Auf dem Weg nach Dachau, ins Konzentrationslager. Edward, seine Schwester Melly und seine Mutter Paula Engelberg bleiben zurück. Sie weinen.

Das Gemälde finden, das Leben rettete

Edward Engelberg macht eine lange Pause. Die Erinnerung setzt ihm sichtlich zu. Der 87-Jährige spricht selten über das, was er in jenem November 1938 in München erlebt hat. Nun macht er eine Ausnahme. Er will der Geschichte seiner Familie ein entscheidendes Kapitel hinzufügen. Er will ein Gemälde wiederfinden; ein Gemälde von geringem materiellen Wert, aber von großer Bedeutung für seine Familie. Ein Gemälde, das den Engelbergs offenbar das Leben gerettet hat, weil es nach der Verhaftung des Vaters ihre Flucht ins Ausland ermöglicht haben soll.

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Edward Engelberg beim Interview mit einem Reporter von Follow the Money in Portland: auf der Suche nach der Wahrheit über jene Tage vor 77 Jahren.

(Foto: Follow the Money)

Das Treffen mit Edward Engelberg ist der Beginn einer Recherche, die wir #Kunstjagd genannt haben und von der wir selbst nicht wissen, wie sie ausgehen wird. Es geht um das Entkommen aus Nazi-Deutschland und um mehr als 30 Menschen, die heute am Leben sind, weil die Flucht damals gelungen ist. Im Zentrum steht eben jenes verschollene Gemälde, das die Flucht erst ermöglicht haben soll und von dem noch einige Male die Rede sein wird.

Es geht in dieser Recherche nicht darum, moralisch den Zeigefinger zu erheben, Menschen zu denunzieren oder jemandem das Bild wegzunehmen. Es geht nicht um Wiedergutmachung und erst recht nicht um Restitution - sondern darum, die Geschichte dieses einen Gemäldes herauszufinden: Um der Familiengeschichte der Engelbergs ein Kapitel hinzuzufügen und zu enträtseln, was in jenen Tagen wirklich geschehen ist.

Zwei Bilder eines fast vergessenen Künstlers

Von vorne. Als die Nazis an die Macht kommen, sind die Engelbergs nicht besonders wohlhabend, aber auch nicht arm. Edward liebt es, mit seinem Vater in dessen Opel durch die Gegend zu fahren. Bis heute kann er sich an das Kennzeichen erinnern: II A - 54558. Noch 1935 verdient Jakob Engelberg als Vertreter für Seidenwaren etwa 500 Reichsmark im Monat. So notiert es jedenfalls die Gestapo in seiner Akte. Abends raucht Engelberg gerne eine Zigarre über einem Buch aus seiner gut bestückten Bibliothek.

Im November 1938 besitzen die Engelbergs zwei Gemälde des heute fast vergessenen Künstlers Otto Theodor Stein. Das eine hängt in Portland, in Edward Engelbergs Wohnzimmer. Es zeigt eine Frau im Halbprofil mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß. Das zweite Bild sah offenbar äußerst ähnlich aus: dasselbe Motiv, dieselbe Größe, bloß etwas brauner im Teint. So erinnert sich zumindest der alte Mann. Es ist dieses Gemälde, das Paula Engelberg einige Tage nach der Verhaftung ihres Mannes Jakob von der Wand nimmt, es vor den Augen ihrer Kinder aus dem Rahmen löst und aufrollt. Sie sagt zu Edward und der drei Jahre älteren Melly, dass sie bloß ruhig sein sollen. Auf keinen Fall die Tür öffnen!

Dann verlässt sie die Wohnung mit dem Gemälde.

Wenige Stunden später kommt sie zurück. Das Bild ist weg, aber sie hat ein lebensrettendes Dokument mitgebracht: ein Visum für die Schweiz.

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Schwestergemälde aus Engelbergs Wohnzimmer - das verschollene Bild, an das er sich erinnert, soll sehr ähnlich aussehen.

(Foto: Follow the Money)

Mit dem Visum erreicht sie bei der Gestapo die Entlassung ihres Mannes. Die Auflage: Jakob Engelberg muss das Deutsche Reich sofort verlassen. Nach 15 Tagen im KZ Dachau kommt er frei, Häftling 19897, untergebracht in Block 8/4, so verzeichnet es das Zugangsbuch.

Als er nach Hause zurückkehrt, erkennt ihn sein Sohn kaum wieder. Mit kahlem Kopf und leerem Blick, so habe sein Vater dagesessen und ein Brot mit Orangenmarmelade zum Tee gegessen, erinnert sich Edward Engelberg. Als die Familie tags darauf mit dem Zug die Schweizer Grenze passierte, sei er in Tränen ausgebrochen. "Jetzt sind wir sicher", habe der Vater gesagt.

Die Engelbergs bleiben für kurze Zeit in Zürich, dann fliehen sie weiter in die USA. Heute, 77 Jahre und drei Generationen später, gibt es mehr als 30 Nachfahren von Jakob und Paula Engelberg. Eine weitverzweigte Familie, über die USA verstreut. Und sie alle kennen diese Überlieferung: Wir sind nur am Leben, weil Paula das Gemälde für ein Schweizer Visum hergegeben hat.

Aber was ist damals wirklich passiert? Und, falls die Geschichte stimmt: Was ist mit dem Gemälde geschehen?

Millionenfach sind Opfern seinerzeit Kunst- und Wertgegenstände abgenommen oder abgepresst worden, bevor sie fliehen konnten, deportiert und ermordet wurden. Die Geschichten sind höchst unterschiedlich, viele sind rätselhaft wie bei den Engelbergs, aber die meisten dieser Gegenstände sind nicht weg, und recherchiert man ihrer Geschichte hinterher, dann recherchiert man auch die Geschichte der Opfer.

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Schemen einer Familiengeschichte - ist das Rätsel um das Gemälde noch zu lösen? (Illustration)

(Foto: Follow the Money)

In der bisherigen Spurensuche sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es das zweite Gemälde der Engelbergs höchstwahrscheinlich wirklich gegeben hat; so lebendig sind die Erinnerungen von Edward Engelberg und so überzeugend die Aufzeichnungen seiner inzwischen verstorbenen Schwester Melly, dass es mehr als eine Legende sein muss. Wenn das Gemälde nicht zerstört worden ist, muss es noch heute irgendwo sein. Auf einem Dachboden, in einem Keller, in einem Depot, einer Kiste, vielleicht im Wohnzimmer einer Familie, die gar nicht weiß, woher das Bild stammt.

Nur wo?

Viele Fragen zu jenen Tagen im Herbst 1938 sind rätselhaft. Was hat Paula Engelberg im November 1938 mit dem Gemälde gemacht? Was konnte eine Jüdin in München überhaupt damit ausrichten? Hat Paula Engelberg es wirklich einem Schweizer Konsularbeamten gegeben, um schneller an das Visum zu gelangen, wie es ihre Tochter Melly später immer behauptet hat, oder ist das bloß eine Legende? Hat sie das - eigentlich nicht sehr wertvolle - Gemälde vielleicht auf dem Weg zum Konsulat versetzt, in einer Pfandleihe zum Beispiel, in einer Galerie oder einem Auktionshaus? Hat sie es Freunden gegeben, als Abschiedsgeschenk?

Wir wollen die Geschichte nun weiter recherchieren - in aller Öffentlichkeit und in einer einzigartigen grenzüberschreitenden Kooperation. An der #Kunstjagd, geführt vom preisgekrönten Internetprojekt Follow The Money, beteiligen sich neben der SZ der Bayerische Rundfunk, der Schweizer Rundfunk SRF, der österreichische ORF, das Deutschlandradio Kultur und die Rheinische Post. Ab diesem Donnerstag verfolgen die Partner sechs Wochen lang die Spuren des Gemäldes und der Familiengeschichte, besuchen Archive, Experten und Zeitzeugen; auf kunstjagd.com berichten wir wöchentlich in einem Podcast über Ergebnisse.

Wir wissen nicht, ob die Suche erfolgreich sein wird; in vergleichbaren Fällen ist sie es oft nicht. Die Geschichten vieler Familien werden deshalb nie komplett erzählt werden können. Deshalb findet unsere Recherche öffentlich statt; jeder kann uns unterstützen, mitdiskutieren, Hinweise geben - die Hoffnung von Edward Engelberg, 87, von seinen Kindern, von seinen Enkeln ist, dass ihre Familiengeschichte so noch zu enträtseln ist.

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