Es war eine dieser Pressemitteilungen, wie sie die Berliner Polizei mehrmals am Tag absetzt. In einer Straßenbahn, so hieß es im Februar 2022, sei es zu einem Streit gekommen, nachdem Fahrgäste eine Jugendliche auf ihre "fehlende Mund-Nase-Bedeckung" angesprochen hatten. Dabei sei die 17-Jährige verletzt worden. Die Information lief zwischen Mitteilungen über einen angefahrenen Fußgänger und eine Messerstecherei unter Betrunkenen in den Redaktionen ein. Sie wurde in ein paar Nachrichtenmeldungen aufgegriffen und hätte wohl keine größere Aufmerksamkeit erregt. Wenn sich nicht das Opfer selbst an die Öffentlichkeit gewandt hätte.
In einem Video auf Instagram erzählte Dilan S., wie sie den Vorfall erlebt hatte. Es sei nämlich nicht nur genau umgekehrt gewesen und sie es gewesen, die die anderen Fahrgäste darauf hingewiesen habe, sich die in der Straßenbahn damals noch vorgeschriebene Maske vors Gesicht zu ziehen. Sie sei dabei auch noch von mehreren Erwachsenen rassistisch beschimpft und körperlich attackiert worden. Das Video war zehn Minuten lang und zeigte die junge Frau in einem Krankenhausbett. Dilan S. musste nach dem Übergriff medizinisch behandelt werden, sie berichtete von Schmerzen, einem Bauchtrauma, Prellungen. Für Dilan S. stand fest: "Ich wurde gestern zusammengeschlagen, weil ich Ausländerin bin."
Die Berliner Polizei korrigierte ihre Meldung später
Das Video ging viral, es folgte eine bundesweite Diskussion über rassistische Übergriffe und wie alltäglich diese geworden seien. Die Zahl politisch motivierter Straftaten hat erst 2021 wieder einen neuen Höchststand erreicht. Taten von rechts seien dabei die größte Bedrohung, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) 2022 angesichts der Fallzahlen mitteilte. Die Berliner Polizei hat ihre Meldung später korrigiert, nun ist der Fall auch vor Gericht gelandet. Am Donnerstag wurden drei Angeklagte zu Haftstrafen zwischen sechs und acht Monaten verurteilt, ein weiterer zu einer Geldstrafe.
Das Amtsgericht Tiergarten musste zunächst sortieren, was an jenem Februarabend überhaupt passiert war. Das sei gar nicht so einfach gewesen, sagt die Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Zum einen, weil in der Straßenbahn vieles gleichzeitig geschehen sei. Zum anderen aber auch, weil der öffentliche Umgang mit dem Vorfall einige Zeugen verwirrt habe. Der Richterin zufolge stand Dilan S. in der Straßenbahn, als zwei Frauen und ein Mann zustiegen. Die drei hatten einen Geburtstag gefeiert und waren dementsprechend alkoholisiert.
Besonders Jennifer G., 34, sei "das gewesen, was man 'aggro' nennt", so die Richterin. Die drei trugen, wie ein Video aus der Straßenbahn zeigt, keine Maske und kamen Dilan S. sehr nahe. Als die Abiturientin die drei aufforderte, Abstand zu halten, kam es erst zu einem Streit, dann fielen rassistische Schimpfwörter. Dilan S. stieg daraufhin aus, die Gruppe folgte ihr. Draußen mischten sich drei weitere Personen in die Auseinandersetzung ein. Allerdings nicht, um Dilan S. zu helfen. "Aus einer Gruppendynamik heraus" hätten mehrere Erwachsene auf die Jugendliche eingewirkt, so drückte es der Staatsanwalt in seinem Plädoyer aus. "Dabei ist eine ausländerfeindliche Gesinnung zu Tage getreten." Dilan S. wurde beschimpft, spürte Tritte und Schläge, wurde an den Haare gezogen.
Dilan S. fühlt sich in Berlin heute nicht mehr sicher
Immer wieder fiel dabei Jennifer G. auf. Mehreren Zeugen zufolge war sie die Aggressivste. Sie erhielt dann auch die höchste Haftstrafe: acht Monate wegen gefährlicher Körperverletzung. Ihre rassistischen Ausfälle wertete die Richterin als strafverschärfend.
Die Angeklagten erschienen nur spärlich zu den Gerichtsterminen. Zur Urteilsverkündung war gerade mal ein 43-Jähriger anwesend und schüttelte den Kopf, als er zu einer Geldstrafe wegen Beleidigung verurteilt wurde. Immer im Saal war hingegen Dilan S., obwohl der Prozess, wie sie sagt, für sie "sehr kraftaufwendig" gewesen sei. Die mittlerweile 18-Jährige leide bis heute psychisch an den Folgen der Tat. Vor allem daran, dass ihr niemand geholfen habe. Bis zu dem Vorfall habe sie auf Berlins Straßen keine Angst gehabt. "Jetzt bin ich hier nicht mehr sicher."