Der Alexanderplatz gilt vielen als städtebaulicher Supergau, reine Durchgangszone, bloß nicht rechts und links schauen. Doch für eine Gruppe von Menschen ist er ein Zufluchtsort. Fotograf Göran Gnaudschun hat sich die Punk-Szene sehr genau angeschaut - "denn wenn ich es nicht mache, macht es RTL 2". Berlin, Alexanderplatz. Jeder, der schon mal in der deutschen Hauptstadt war, kennt ihn, und die meisten anderen auch: Fernsehturm, Ost-Architektur, extrem viel Beton. Verkehrsknotenpunkt, bis zu 300 000 Menschen am Tag verkehren hier, fast alle wollen nur schnell durch. Bis zu 10 000 Einkäufer bevölkern stündlich diverse Einkaufszentren, rechts und links wird lieber nicht hingeschaut, zu hässlich, zu ungemütlich. Und während der Fernsehturm weltweit als Markenzeichen für die junge, kreative und attraktive Hauptstadt gilt, wurde zu seinen Füßen vor anderthalb Jahren der 20-jährige Johnny K. totgeprügelt. Ein Ort der krassen Gegensätze, zudem höchst geschichtsträchtig, der russische Zar verlieh ihm einst seinen Namen, die Wende erlebte hier ihren ostdeutschen Höhepunkt, alles in allem vielleicht der typischste Platz Berlins. Womöglich ein Grund dafür, dass Göran Gnaudschun sein Buch nach ihm benannt hat, obwohl es ihm weniger um den Platz als um die Menschen dort geht. Ähnlich wie auch in Afred Döblins "Berlin Alexanderplatz", Deutschlands berühmtestem Großstadtroman, der ebenfalls vom Lavieren durch prekäre Verhältnisse erzählt.
Es sind die Gegensätze dieser Stadt, die auch Gnaudschuns Bilder ausmachen. Eine Gruppe von Punks bevölkert eine Wiese, im Hintergrund auf einer der ewigen Baustellen: Werbung für die anderen, die smarten, hippen Großstädter, die diese Stadt genauso anzieht wie diejenigen, die sich den Regeln dieser Gesellschaft verweigern.
Am Alexanderplatz finden sie eine Art Zuhause, doch nicht alle sind obdachlos. Berlin-Gestrandete, Außenseiter, Randexistenzen, Selbstdarsteller und Crash-Kids: Viele kommen hierhin, um eine Geborgenheit zu spüren, die sie anderswo vermissen. Ausgerechnet hier, an diesem unwirtlichen Platz, zwischen Touristen, eiligen Passanten und Einkäufern. Was machen sie den ganzen Tag, wo kommen sie her, warum genau sind sie da?
Göran Gnaudschun, 42, Fotograf aus Potsdam, hat sich drei Jahre lang mit der Szene auf dem Alexanderplatz beschäftigt, um das herauszufinden. Von 2010 bis 2013 war er jeden Dienstag da, vom frühen Nachmittag bis in die Nacht, um mit den Leuten zu sprechen, zu fotografieren, Interviews zu führen. Auslöser war der Auftrag einer Wochenzeitung: Er sollte eigentlich nur ein paar Bilder machen für eine Reportage, dann schnell wieder weg, wie üblich. Doch als er eins seiner Fotos genauer betrachtete, sah, wie königlich eine Protagonistin für ihn posiert hatte, trotz ihres abgerissenen Zustands, da wusste er: Er muss wiederkommen. Es hat sich gelohnt.
Denn Gnaudschun ist es gelungen, die Szene von innen heraus zu beleuchten, so behutsam wie deutlich, frei von erhobenem Zeigefinger, egal in welche Richtung, frei von Sozialromantik, Anbiederei oder Vorverurteilung gleich welcher Gesinnung. Das ging nur, indem er selbst ein Teil davon wurde. Übernachtet hat er nie, am Ende eines jeden Tages ging es immer mit dem Zug nach Hause, zu Frau und Kindern. Doch er hat mit den Alexanderplatzbewohnern stundenlang gesessen, geredet, geschwiegen und auch getrunken. Sie haben ihn als einen der ihren aufgenommen, weil er einst selbst in einer Punkband gespielt hat. Und weil sie gespürt haben, dass er sie nicht vorführen will, nur verstehen. Dass er Zeit mitbringt, und Anteilnahme, von beidem genug, aber nicht übertrieben.
Dadurch sind Bilder entstanden, die sehr intim sind - und gleichzeitig allgemeingültig. Es gibt diese Lebensgeschichten nicht nur auf dem Alexanderplatz, aber hier versammeln sie sich besonders oft. Es sind die immer ähnlichen Geschichten von Brüchen in der Biographie einzelner Menschen, die teils so früh einsetzten, dass niemand mehr helfen kann oder will - nur die Alexbewohner, die ähnliche Abgründe erlebt haben. Man hilft sich untereinander aus, besorgt sich einen Schlafplatz für die Nacht, ein Bier oder Korn für den Tag, manchmal wird gegrillt, das sind die schöneren Tage. "Wir lassen niemanden alleine", heißt es an einer Stelle. Wie nötig das ist, zeigen Interviews, die Gnaudschun in seinem Buch veröffentlicht, immer unabhängig von den teils dazugehörigen Bildern. Um Luna, Nils, Mucki und Stüllchen zu schützen, genau wie Clara, Holländer, Struppi und den Lord. Niemand soll bloßgestellt werden, aber wer erzählen will, der darf - und soll.
Da erzählt ein junger Mann, wie er vom Gelegenheits-Hooligan zum Verstoßenen wurde, nirgendwo Arbeit findet, nirgendwo andocken kann und doch so gerne würde. Da erzählt ein älterer Punk, wie er in den Knast kam, weil er zu besoffen gewesen sei, um zu widersprechen, ein jüngerer, wie er ein Polizeirevier in Brand gesteckt hat, weil er sich ungerecht behandelt fühlte. Schikane vom Amt, Hilfe von Streetworkern, alles kommt zur Sprache, zumindest ansatzweise. Eine 27-Jährige erzählt, wie sie angefangen hat, Drogen zu nehmen, sich zu prostituieren, inzwischen runter ist von dem ganzen Zeug und einen Job bei einer Sicherheitsfirma hat, aber immer noch vorbei schaut, bei den alten Gesinnungsgenossen, um nach dem Rechten zu sehen, obwohl sie hier einst fast totgeprügelt wurde. Und eine 15-Jährige erzählt, wie ihr Vater sie missbraucht, schwerst misshandelt und verschleppt hat, wie hilflos ihre Mutter dagegen war und dass sie niemals eine Trauma-Therapie dafür in Anspruch nehmen durfte, weshalb sie selbst kaum glaubt, darüber jemals hinweg zu kommen. Die schlimmsten Schicksale auf der einen Seite, auf der anderen Seite kleine Dummheiten, die zu großen Verfehlungen geführt haben, andere, die einfach nur abhängen wollen, weil ihnen die Szene und die Verweigerung gefällt, und der Alkohol. Sie alle finden sich hier, mehr oder weniger freiwillig. Bei manchen versagen die Hilfsangebote, andere wollen einfach nie wieder von irgendjemandem abhängig sein. Dann lieber "Platte machen". Einige bleiben nur für ein paar Stunden oder Tage, andere für immer.
Manche denken politisch, sehen ihre Lebensweise als Mahnmal gegen Faschismus und Kapitalismus, anderen ist das alles egal, auch Skinheads sind regelmäßig da. Es gibt Liebe und Zärtlichkeiten untereinander, genau wie Schlägereien und Wortgefechte. Es kann schnell gefährlich werden am Alex, weil durch Alkohol und andere Drogen viele Hemmungen wegfallen, und weil so viele unterschiedliche Typen aufeinandertreffen, doch dem Fotografen ist nie etwas passiert. Die Punks waren eher dankbar, dass einer da ist, der ein Teil von ihnen geworden ist, und ihnen eine Stimme und ein Gesicht gibt. Denn Stimme und Gesicht sind etwas, das für sie nicht selbstverständlich ist.
Als Gnaudschun, Meisterschüler von Timm Rautert und inzwischen selbst Dozent für Fotografie, seine Ausstellung vor wenigen Wochen im Haus am Lützowplatz eröffnete, waren seine Protagonisten auch da. Als einer von ihnen begann, sein eigenes Bild mit einem Tag zu verzieren, rief Gnaudschun: "Hey, das ist mein Bild!" "Nein, das ist mein Bild", war die Antwort des Portraitierten - und die Sache war gegessen. Das Tag blieb. Das ist einer der Gründe, warum die Punks sich dem Fotografen anvertraut haben: Er wollte sich nicht über sie erheben. Kannte Teile der Szene schon von den Hausbesetzern in Potsdam, über die er auch schon ein Buch gemacht hat, wusste, wann es besser ist, zu schweigen. Diversen Touristen, die sich weniger Gedanken gemacht haben, werden Kameras auch schon mal aus der Hand geschlagen, wenn sie allzu auffällig fotografieren. Niemand will abgelichtet werden wie im Zoo. Trotzdem war es dem Künstler wichtig, die Szene bildlich und im Text einzufangen, denn "wenn ich es nicht mache, macht es keiner, habe ich mir gedacht", erzählt Gnaudschun, "beziehungsweise: Wenn ich es nicht mache, macht es RTL 2". Der Fotograf, dem es gelungen ist, das Außenseiterleben am Alex (Berliner Abkürzung für Alexanderplatz) so unaufgeregt wie eindrücklich einzufangen, hat für sich selbst vor allem einen Auftrag mit nach Hause genommen: "Wie wichtig es ist, gut zu seinen Kindern zu sein." Er selbst hat drei davon.
Es sind die Interviews, die der Sache Gewicht geben, weil Gndauschun die Leute reden lässt, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, so viel und so lange sie wollen und können. Manches bleibt vom Alkohol vernebelt, anderes wird glasklar. Erstaunliche Gewissheiten kommen dabei zutage, viel Weisheit und auch viel Nebulöses. Manches wird nicht ausgesprochen, weil es unaussprechlich ist, dafür werden andere Geschichten erzählt, die weniger glaubwürdig sind, aber nicht so schlimm, und leichter zu erzählen. Dazwischen eigene, reportageartige Texte des Autors, die Szenen nacherzählen, und geschickt verdichtete Kurzgeschichten über suizidgefährdete Emo-Mädchen, schizophrene Kurzzeitbesucher, aggressive junge Bielefelder oder einfach von der Zuneigung zu einem Hund, der Wärme gibt. Teilweise todtraurig, teilweise extrem lustig. So gegensätzlich sind auch die Bilder. Das eine zeigt schlafende Obdachlose auf Beton, im Hintergrund sitzen teils vergnügt wirkende Berlin-Bewohner, die die Szene beobachten. Das andere ...
... zeigt zwei Alexbewohner, ausgelassen im Brunnen planschend, fast wie bei Fellinis La Dolce Vita. Das süße Leben und das bittere, beide Seiten zeigt Gnaudschun, nahezu unkommentiert. Die Emotionen liefert nicht der Künstler, das machen die Alexbewohner selbst. "Du bist Alex", beschreibt es ein Mädchen in seinem atemlosen Interview, als sie davon erzählt, wie hin- und hergerissen sie ist zwischen dem Platz mit ihren Verbündeten, die sie auf der einen Seite trösten, auf der anderen Seite aber auch immer wieder runterziehen.
Göran Gnaudschun ist ein Chronist des Lebens am Alexanderplatz, einer Szene, von der sich die meisten, Passanten wie Politiker, eher abwenden - und eben nicht so genau wissen wollen, was da passiert und warum. Nachdem Gnaudschun lange nach einem Verlag suchen musste, war die Buchpräsentation an diesem Donnerstagabend erstaunlich gut besucht und voller Interessierter. Der Fotograf erklärt sich das damit, dass seine Arbeit es dem Beobachter ermöglicht, in Ruhe die Gesichter zu studieren, ohne gleich in Beschlag genommen zu werden. Denn viele interessieren sich schon für die Bewohner vom Alex, sie haben nur Angst oder keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Und Sorge, die falschen Fragen zu stellen - oder die richtigen.
Wer also immer schon wissen wollte, wieso der junge Mann, dem man statt dem erbetenen Euro sein Brötchen anvertraut hat, es gleich an seinen Hund weitergibt, der wird in diesem Buch fündig. Und nicht zuletzt: Göran Gnaudschun ist es gelungen, Menschen vom Rande der Gesellschaft, die er teils in dokumentarischen Alltagsszenen abgelichtet, teils wie kunsthistorische Fürstenportraits inszeniert hat, nicht nur ihre Stimme und ihr Gesicht zurück zu geben. Sondern auch ihre Würde. Die Ausstellung ist noch bis 30. März im Haus am Lützowplatz zu sehen, das Buch ist erschienen im österreichischen Fotohof-Verlag.