Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Wann Therapeuten ihr Schweigen brechen dürfen

Konkrete Hinweise auf eine drohende Gefahr, die von ihren Patienten ausgeht, sind Voraussetzung. Doch die sind in der Praxis selten eindeutig erkennbar.

Von Wolfgang Janisch

Diese Frage kann die Angehörigen von Anschlagsopfern schier um den Verstand bringen: Hätte nicht jemand, der sich intensiv und professionell mit der Psyche des späteren Täters befasst hat, das Unglück vorhersehen können und verhindern müssen? Es ist eine Frage, die sich an Ärzte und Therapeuten richtet. Sie wurde nach dem Amoklauf von Winnenden gestellt - der 17-jährige Tim K. war in therapeutischer Behandlung. Und noch dringlicher, nachdem der Copilot Andreas Lubitz - wegen Suizidgefahr ebenfalls in psychotherapeutischer Behandlung - vergangenes Frühjahr ein voll besetztes Flugzeug zum Absturz gebracht hatte; erst kürzlich haben Angehörige seine Ärztin angezeigt. Auch Mohammad D., der Selbstmordattentäter von Ansbach, war in psychiatrischer Behandlung.

Was müssen, was dürfen Ärzte in einer solchen Situation tun? Die juristischen Eckdaten sind nur auf den ersten Blick klar und eindeutig. Einerseits gilt die ärztliche Schweigepflicht, Verstöße können sogar strafrechtlich geahndet werden. Andererseits kann auch das Nichtanzeigen eines geplanten Verbrechens bestraft werden; wenn es um Mord oder Totschlag geht, könnte theoretisch sogar ein Arzt verpflichtet sein, sein Schweigen zu brechen.

Doch derart klare Konstellationen, in denen ein Patient im Behandlungszimmer einen konkreten Plan offenbart, gibt es in der Praxis kaum. Lebensnaher sind Situationen, in denen der Arzt es zwar für möglich hält, dass sein Patient eine Straftat begeht, aber eben keine konkreten Hinweise auf entsprechende Pläne hat. Im Falle eines "rechtfertigenden Notstands" könnte er sich über seine Schweigepflicht hinwegsetzen - aber nur, wenn eine gravierende und vor allem "gegenwärtige" Gefahr etwa für Leben oder Gesundheit anderer Menschen vorliegt. Eine "gegenwärtige Gefahr" also, keine allgemeine Befürchtung: Das Oberlandesgericht Frankfurt hat beispielsweise das Recht des Arztes bejaht, die Ehefrau eines Aids-Patienten über das Ansteckungsrisiko zu informieren, nachdem dieser gesagt hatte, er wolle auch weiterhin kein Kondom benutzen.

Wer damit rechnen muss, dass der Arzt redet, geht gar nicht erst hin

Nun ist der Zusammenhang von Infektion und Ansteckungsgefahr ziemlich konkret. Was aber ist mit Depression oder Aggression? Tim K. hatte seiner Therapeutin ein knappes Jahr vor dem Amoklauf gestanden, er empfinde "Wut und Hass auf die ganze Menschheit". Im Lichte der furchtbaren Tat betrachtet, mag das fast wie eine Ankündigung klingen. Andererseits: Ähnliche Sätze hören die Therapeuten von depressiven oder an Persönlichkeitsstörungen leidenden Patienten häufig. Daraus lässt sich schwerlich eine konkrete Gefahr ableiten. Das Landgericht Heilbronn hat vor wenigen Monaten eine Schadenersatzklage von Tim K.s Vater gegen die Therapeutin abgewiesen. Eine Diagnose, die zweifelsfrei auf einen bevorstehenden Amoklauf schließen lasse, gebe es nicht, hatte ein Gutachter erläutert.

Aber sollten Ärzte nicht im Zweifel schneller mögliche Risiken offenbaren dürfen? Dagegen spricht, dass man damit den Schutz möglicher Opfer nicht erhöhen, sondern verringern würde. Die Schweigepflicht soll Menschen, die an psychischen Störungen leiden, den Gang zum Arzt erleichtern, weil sie sich nicht vor Stigmatisierungen fürchten müssen. Wer damit rechnen muss, dass zum Beispiel die Polizei über seine Krankheit informiert wird, dürfte auf eine Behandlung verzichten. Das wäre ein Förderprogramm für tickende Zeitbomben.

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SZ vom 27.07.2016/tamo
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