Psychologe über Breivik-Prozess:"Ein gescheiter Angeklagter kann den Gutachter an der Nase herumführen"

Ist Anders Behring Breivik ein geistig gesunder Mann mit einer menschenverachtenden Ideologie? Oder doch psychisch krank? Professor Harald Merckelbach ist darauf spezialisiert, vor Gericht Simulanten von Kranken zu unterscheiden. Ein Gespräch über die Anfälligkeit von Gutachten.

Johanna Bruckner

Er legte stets größten Wert auf sein Äußeres, erschien in selbstkreierter Uniform mit akkuratem Scheitel im Osloer Tinghus. Wenn er über seine menschenverachtende Ideologie und seine monströsen Taten sprach, drückte er sich gewählt aus. Über Wochen versuchte Anders Behring Breivik, das Bild des reflektierten, politisch motivierten Terroristen aufrechtzuerhalten. Doch je länger der Prozess dauerte, desto mehr begann die Fassade zu bröckeln, bei seinem Schlusswort schließlich erschien der 33-jährige Massenmörder manchem Beobachter wie ein Wahnsinniger. Harald Merckelbach ist Professor für forensische Psychologie an der Universität Maastricht und hat sich darauf spezialisiert, psychisch kranke Straftäter von Simulanten zu unterscheiden. Im Gespräch schildert er, wie Prozessgutachter arbeiten, warum rechtspsychiatrische bzw. -psychologische Expertisen in vielen Fällen angreifbar sind - und wieso die Anschläge von Norwegen aus seiner Sicht nicht die Tat eines Schizophrenen sind.

Süddeutsche.de: Herr Merckelbach, zu welchen Fällen werden Sie als Gutachter gerufen?

Harald Merckelbach: Ich werde meistens hinzugebeten, wenn Straftäter behaupten, unter Gedächtnisverlust zu leiden. Sie begründen das damit, dass sie zu viel gesoffen hätten, unter Drogeneinfluss standen oder von ihren Emotionen übermannt wurden. Die beteiligten Juristen, also vor allem Richter und Staatsanwalt, wollen dann natürlich wissen: Kann sich der Angeklagte wirklich nicht an die Tat erinnern, oder täuscht er den Gedächtnisverlust nur vor?

Süddeutsche.de: Wie gehen Sie bei der Beurteilung eines Angeklagten vor?

Merckelbach: Wir in Maastricht nehmen eine besondere Position innerhalb der forensischen Psychologie in den Niederlanden ein. Wie auch amerikanische Gutachter setzen wir verschiedene standardisierte Tests ein. Sie erlauben verlässliche Aussagen darüber, ob das Gedächtnis eines Angeklagten tatsächlich beeinträchtigt ist, oder ob er simuliert. Denn wir wissen, wie sich normale Personen auf diese Tests hin verhalten, wie Patienten mit Schizophrenie oder anderen psychiatrischen oder neurologischen Krankheiten reagieren, und welche Ergebnisse jemand produziert, der lügt.

Süddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel aus einem solchen Test nennen?

Merckelbach: Das kann ich gerne machen, aber ich möchte nicht zu viele Details verraten - denn der Feind liest mit. Ein einfaches Beispiel: Nehmen wir einmal an, Sie sind wegen eines schweren Verbrechens angeklagt, behaupten aber, sich an nichts erinnern zu können. Dann werde ich als Sachverständiger Sie zu Details des Delikts befragen, die nur die an den Ermittlungen beteiligten Personen und eben der Täter wissen können. Also, das Tatfahrzeug: War das weiß oder rot? War es ein Opel oder ein VW? Und die Waffe: Wurde ein Jagdgewehr verwendet oder ein Messer? Wie oft wurde zugestochen: einmal oder zwanzigmal? Wenn Sie tatsächlich unter Gedächtnisverlust leiden, werden Sie manchmal richtig tippen und manchmal falsch. Ihre Quote korrekter Antworten würde bei etwa 50 Prozent liegen. Die Leute, die einen Gedächtnisverlust nur vortäuschen, kreuzen hingegen zu oft bewusst die falsche Alternative an, als dass es noch wahrscheinlich ist. Mithilfe statistischer Verfahren kann man dann nachweisen, dass der Angeklagte sehr wohl weiß, was die richtige und was die falsche Antwort ist.

Süddeutsche.de: Lassen sich mit solchen Tests auch psychische Erkrankungen diagnostizieren?

Merckelbach: Nein, das geht mit diesen Tests nicht. Man kann nur ausschließen, dass es sich um vorgetäuschte Schizophrenie oder simulierten Gedächtnisverlust geht. Wenn dass der Fall ist, liegt zwar die Vermutung nahe, dass der Angeklagte nicht richtig im Kopf ist. Aber die Frage, worunter er tatsächlich leidet, bleibt offen.

"Sehr unwahrscheinlich, dass er schizophren ist"

Süddeutsche.de: Die konkrete Diagnose würde dann nach Gesprächen erfolgen?

A close up shows the hands of Norwegian mass killer Breivik in handcuffs during the second day of his terrorism and murder trial in Oslo

Ordentlich gekleidet und frisiert, die gefesselten Hände aufgeräumt vor dem Körper gefaltet: Anders Behring Breivik versuchte vor Gericht in Oslo, den Eindruck zu widerlegen, er sei geisteskrank.

(Foto: Reuters)

Merckelbach: Es wäre ein psychiatrisches Interview notwendig, ja. Aber auch hier versuchen wir, so oft wie möglich Tests in die Diagnose einzubinden. Es gibt standardisierte Verfahren, um geistige Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depression festzustellen. Nur wenn objektive Tests verwendet werden, können andere Sachverständige Ergebnisse replizieren, wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft oder Verteidigung eine zweite Expertenmeinung einfordert. Ansonsten besteht immer die Gefahr, dass die Persönlichkeit des Gutachters bzw. seine Beziehung zum Angeklagten zu einem anderen Urteil führt.

Süddeutsche.de: Wie geht das?

Merckelbach: Mit der Zeit lernen sich Psychiater und Angeklagter kennen. Und der Psychiater wird immer sensibler für die Geschichte seines Gegenübers, kann irgendwann nachvollziehen, warum er das Verbrechen begangen hat. Das ist verheerend für ein objektives Urteil. Genau wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern waren und sind auch in den Niederlanden immer noch die Psychoanalytiker dominierend. Die gehen von zwei Annahmen aus. Erstens: Schlimme Folgen haben schlimme Ursachen, und die liegen im Kopf. Sie gehen davon aus, dass bei Menschen, die ein schweres Verbrechen verüben, eine psychische Erkrankung vorliegen muss. Darüber hinaus stützt sich die alte Psychiatrieschule auf die Annahme, dass man mithilfe eines psychoanalytischen Gesprächs herausfinden kann, woran eine Person leidet. Beide Annahmen halte ich jedoch für blödsinnig.

Süddeutsche.de: Warum?

Merckelbach: Ein gescheiter Angeklagter kann den Gutachter sehr wohl an der Nase herumführen. Studien zufolge sind etwa 30 Prozent der psychischen Erkrankungen bei Straftätern nur vorgetäuscht. Mancher Verurteilte, der eine Geisteskrankheit nur geschauspielert haben, outet sich nach einer Zeit selbst, weil sie es in der Psychiatrie nicht mehr aushält. Aber das sind längst nicht alle. Gott sei Dank setzt sich langsam - nicht nur hier in Maastricht - die Überzeugung durch, dass wir in der Rechtspsychologie bzw. -psychiatrie Test brauchen, um uns gegen Simulanten zu schützen. Dabei spielen auch die Medien eine wichtige Rolle: Die haben in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass insbesondere die Einschätzungen und Prognosen solcher Psychologen und Psychiater falsch waren, die in der Tradition der alten Schule arbeiten. So konnte und kann es immer wieder zu fatalen Fehleinschätzungen kommen, mit der Folge, dass gefährliche Straftäter freigelassen werden.

Süddeutsche.de: Wie kann man das verhindern?

Merckelbach: Es gibt auch zur Bewertung des Rückfallrisikos sehr gute Tests. Mit denen lässt sich verlässlicher feststellen, ob es sich um einen Psychopathen handelt, der grundsätzlich gefährlich ist, oder um jemanden, der aufgrund punktueller negativer Lebensumstände kriminell wurde. Studien aus den USA belegen, dass die Vorhersage statistischer Instrumente zwar nicht fehlerfrei ist - aber allemal besser, als die Vorhersage eines alten Psychiaters, der ein bisschen nett mit dem Angeklagten oder Häftling plaudert.

Süddeutsche.de: Der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik hat seine Taten akribisch geplant und sehr konsequent durchgeführt. Trotzdem sind zwei Gutachter zu dem Schluss gekommen, dass er psychisch krank ist, unter paranoider Schizophrenie leidet. Für den Laien klingt das wie ein Widerspruch.

Merckelbach: Im Fall Breivik war es so, dass einer seiner Anwälte im ersten öffentlichen Statement gesagt hat, dass sein Mandant unter paranoider Schizophrenie leidet. Das war aus Sicht der Verteidigung ein kluger Schachzug, denn Studien zeigen, dass Laien diese Erklärung überzeugend finden: Wenn ein radikales Verbrechen geschieht, muss es im Kopf des Täters eine Abnormalität geben. Ein gesunder Mensch hätte so etwas Abscheuliches nicht planen und durchführen können. Ähnlich denken die Psychiater alter Schule, zu denen wohl die ersten beiden Gutachter gehören. Ich halte es im vorliegenden Fall jedoch für sehr unwahrscheinlich, dass der Angeklagte schizophren ist - das Konzept der Krankheit passt überhaupt nicht zu Breiviks Handeln.

Süddeutsche.de: Können Sie das erklären?

Merckelbach: Wenn Patienten mit Schizophrenie etwas sagen oder schreiben, ist das typischerweise sehr chaotisch, wirr. Sie erfinden Wörter, ihre Argumentation ist unlogisch, man kann ihre Ausführungen nur schwer nachvollziehen. Das ist bei Breivik nicht der Fall: Wenn man sich anguckt, was er in seinem Manifest geschrieben hat, dann ist das zwar rechtsradikal und menschenverachtend. Aber man kann ihm gut folgen, das sind nicht die Worte eines paranoiden Schizophrenen. Und ich halte es auch für unmöglich, dass eine Person mit einer akuten Psychose ein Verbrechen dieser Komplexität vorbereitet und begeht.

Süddeutsche.de: Welche Straftaten sind typisch für Schizophrene?

Merckelbach: Wir hatten vor einiger Zeit einen Fall hier in Maastricht: Ein Mann war überzeugt, er müsste Kontakt zu Gott aufnehmen, und ist in einen mittelalterlichen Turm geklettert. Oben hat er dann gewaltsam versucht, ein Fenster zu öffnen. Das ist heruntergestürzt und hat einen Passanten erschlagen. Der Schizophrene hat zwar dumm gehandelt, mit furchtbaren Folgen, aber er war nicht gezielt aggressiv. Es gibt das Vorurteil, Schizophrene seien gefährlich. Wenn schlimme Verbrechen geschehen, heißt es in der Presse schnell: Der Täter muss unter Schizophrenie leiden. Aber der Großteil der Erkrankten würde solche Taten nie begehen. Die meisten Patienten sind sehr ängstlich, gehen nicht gerne unter Leute. Wenn sie gewalttätig werden, dann in der Regel gegen Menschen, die ihnen nahestehen.

Süddeutsche.de: Wenn Breivik nicht schizophren ist, hat er dann möglicherweise eine andere psychische Erkrankung?

Merckelbach: Das lässt sich aus der Ferne schwer beurteilen. Er könnte ein geistig gesunder Mann sein, der auf der Suche war nach seinem claim for fame, der berühmt werden wollte. Oder er könnte ein Psychopath sein. Weder die Juristen, noch die forensischen Psychologen und Psychiater wissen, wie sie damit umgehen sollen: Ist Psychopathie ein Persönlichkeitszug oder ist es eine Erkrankung? Ich halte ersteres für überzeugender, denn es deutet nichts daraufhin, dass Psychopathen nicht in der Lage sind, ihr Verhalten zu kontrollieren. Nur wenn das der Fall wäre, müsste man von einer Krankheit ausgehen, die die Zurechnungsfähigkeit einschränkt.

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