Süddeutsche Zeitung

Psychisch Kranke:BGH entdeckt fatale Gesetzeslücke

  • Der BGH hat Lücken im Gesetz zur ärztlichen Zwangsbehandlung psychisch Kranker entdeckt.
  • Derzeit gibt es keine ärztliche Zwangsbehandlung für Patienten, die nicht in einer geschlossenen Unterbringung leben - auch nicht bei lebensrettenden Maßnahmen.
  • Konkret geht es um das Leben einer an Brustkrebs erkrankten 63-Jährigen, die an einer Psychose leidet und die Behandlung verweigert.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Erst vor zwei Jahren sind die Vorschriften für die ärztliche Zwangsbehandlung psychisch Kranker geschaffen worden - nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine fatale Lücke im Gesetz entdeckt. Zwar dürfen Patienten, die an einer schweren Krankheit leiden, unter bestimmten Voraussetzungen auch gegen ihren Willen behandelt werden, wenn sie die Konsequenzen ihrer Weigerung nicht überblicken können.

Das gilt aber nur, wenn sie zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind. Ohne geschlossene Unterbringung dürfen Patienten nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht zwangsbehandelt werden - selbst dann, wenn eine lebensrettende Operation notwendig ist. Der BGH hält dies für verfassungswidrig und hat das Bundesverfassungsgericht angerufen. (Az: XII ZB 89/15)

63-Jährige verweigert Brustkrebs-Behandlung

In dem Fall geht es um eine 63-jährige Frau, die an einer Psychose leidet und deshalb unter rechtlicher Betreuung steht. Sie ist an Brustkrebs erkrankt und müsste deshalb dringend behandelt werden - was sie aber ablehnt.

Wäre sie in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht, könnte der rettende Eingriff auch gegen ihren Willen angeordnet werden. Nur liegen eben die Voraussetzungen dafür nicht vor, einfach deshalb, weil die Frau geschwächt im Rollstuhl sitzt; eine Unterbringung wäre etwa dann möglich, wenn sie wegzulaufen versucht hätte.

Damit hat das Gesetz laut BGH eine paradoxe Konsequenz: Den noch zum Weglaufen fähigen Patienten könne geholfen werden, während, wer dafür zu schwach ist, "auch bei schwersten Erkrankungen seiner Krankheit überlassen bleiben muss". Den Verfassungsrichtern droht nun ein Wettlauf mit der Zeit, weil die schwer kranke Frau ohne Richterspruch nicht behandelt werden kann.

Das Bundesjustizministerium kündigte eine Überprüfung der Vorschriften an. Das noch aus der letzten Legislaturperiode stammende Problem, dass bestimmte Patientengruppen von womöglich lebensrettenden Zwangsbehandlungen ausgeschlossen seien, habe man schon seit einiger Zeit auf der Agenda.

Für die derzeit geltenden Vorschriften hatte ebenfalls der BGH den Anstoß gegeben. Mit zwei Entscheidungen mahnte das Gericht im Jahr 2012 eine gesetzliche Grundlage für die Zwangsbehandlung in geschlossenen Einrichtungen an. Damals ging es vor allem darum, klare Grenzen zu formulieren, zum Beispiel, um die Betroffenen vor einer allzu leichtfertigen Verabreichung von Psychopharmaka zu schützen.

Reform mit Lücken

Der BGH hatte sich dabei an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientiert, wonach der Wille des Patienten nicht gänzlich irrelevant ist, selbst wenn ihm die Einsicht in die Tragweite seiner Entscheidung fehlt. Dies hatte der Gesetzgeber in seine Reform aufgenommen - dabei aber offenbar übersehen, dass sich die Frage der lebensrettenden Zwangsbehandlung auch außerhalb geschlossener Einrichtung stellen könnte.

Nach Einschätzung von Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz könnte eine Ausweitung von Zwangsbehandlungen große Auswirkungen haben - zum Beispiel für die ärztliche Versorgung von Demenzkranken, die normalerweise nicht in geschlossenen Einrichtungen untergebracht seien.

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SZ vom 15.07.2015/kat
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