Das Tagungszentrum Inzmühlen ist ein reetgedecktes, klassisch-niedersächsisches Bauernhaus im Nirgendwo zwischen Soltau und Hamburg. Zwei alte Gebäude stehen auf dem weitläufigen Grundstück umgeben von uralten Eichen, Wiesen und einem Moorbach.
Inzmühlen in der 2355-Seelen-Gemeinde Handeloh. Viele Highlights gibt es hier nicht. Bis vielleicht auf eben jenes Tagungszentrum, das "Tanzheimat" heißt, weil dort auch gern getanzt wird. Auf der Webseite des Zentrums toben Hausbewohner mit Gänsen über das Grundstück und machen so allerhand tolle Seminare. Bewusstseinsfindung. Und so was. Ein Stück heile Welt am Rande der Lüneburger Heide. Bis zum Freitag um die Mittagszeit. Da war die Welt da heillos durcheinander. Zunächst in den Köpfen der Gäste - dann auch auf dem Hof.
Ein Hexentanz
Es scheint, als sei das Tagungszentrum am Freitagnachmittag Schauplatz eines echten Hexentanzes geworden. Aufgeführt von einer Gruppe aus Homöopathen und Heilpraktikern zunächst nur im 100 Quadratmeter großen Seminarraum mit "Schwingfußboden aus Eichenparkett mit Fußbodenheizung", später dann auf dem gesamten Gelände.
Getragen wird das schöne Tagungszentrum in einer alten Rauchkate vom esoterisch anmutenden "Institut Heilende Kräfte im Tanz". Doch das hat die Räumlichkeiten an die Gruppe nur untervermietet. An wen genau? Im Tagungszentrum selbst ist die Leiterin an der Strippe, doch die sagt nur: "Ich kann leider keine Fragen beantworten. Wiederhörn." Dann legt sie auf. Dem NDR hatte sie zuvor zwar auch nicht den Namen der Verantwortlichen genannt, doch sichtlich geschockt und betroffen von der Szenerie auf ihrem Hof noch folgende Auskunft erteilt: Diese Gruppe käme dreimal im Jahr, nie sei es zuvor zu Zwischenfällen gekommen, die Veranstalter seien "ganz seriös" und sie könne sich nur vorstellen, dass es sich da um einen Unfall gehandelt habe.
Es bleibt also zunächst ein Mysterium, was dort gestern Mittag geschah. Obwohl sich niemand zu Spekulationen hinreißen lässt, klingen fragende Antworten durch: Hat man da gemeinsam verbotene Substanzen ausprobiert, sozusagen als alternative Medizin? War es vielleicht ein gemeinsames Experiment mit psychedelischen Drogen?
Speziell dreht es sich in diesem Fall laut Polizeiangaben um das Halluzinogen "2C-E", in "Szenekreisen" auch als "Aquarust" bekannt. Von der Wirkung wird es mit Speed, Ecstacy, aber auch mit der von LSD verglichen. "2,5-Dimethoxy-4-ethylphenethylamin" wie der Stoff der Träume und Albträume vollständig heißt, ist ein Psychedelikum, das erstmals von dem im vergangenen Jahr verstorbenen amerikanisch-russischen Chemiker und Pharamakologen Alexander Shulgin synthetisiert wurde. Es verändert die Bewusstseinswahrnehmung, erzeugt psychedelische Effekte, unterdrückt Hungergefühle, steigert das Selbstbewusstsein. Es soll in der Partyszene beliebt sein, wird aber auch gern in der freien Natur eingenommen. In Deutschland verboten ist die Droge erst seit Dezember 2014. Vorher hatte man sie gar nicht so richtig auf auf dem Schirm.
Im Netz ist der Erfahrungsbericht eines Konsumenten zu finden: Direkt nach der Einnahme sei eine starke Übelkeit aufgetreten, inklusive mehrfachen Übergebens, schnell habe dann aber die Wirkung eingesetzt, wie ein "leiser mentaler Herzinfarkt". Der Konsument berichtet von einem Gefühl der Glückseligkeit, gestörter Akustik und völlig verfremdeter Wahrnehmung mit beeindruckenden Wolkenformationen, in denen sich Vögel mit Flugzeugen Luftkämpfe liefern, sich stark verändernden, "morphenden" Dingen ("Der Baum am anderen Ufer verformte sich schon beträchtlich, und ein langer Ast, der in den Bach ragte, strampelte wie ein Kind mit den Beinen im Wasser") - und heftigen Lustattacken etwa auf Früchte ("Wir gingen weiter, pflückten ein paar Brombeeren, die aus der Entfernung unglaublich groß aussahen, in der Hand aber stark zusammenschrumpften").
Neben den Halluzinationen ("Alles war am sich bewegen, verziehen und zerfließen, auf den Bodenfließen bildeten sich geometrische Muster und Fraktale, der Blick in den Spiegel zeigte mir eine Person, mit der ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht identifizieren konnte") führte "Aquarust" zumindest bei diesem Menschen zu gesteigerter Empathiefähigkeit.
Bei den Teilnehmern des obskuren Kurses in Inzmühlen sollen einige jedoch unter Wahnvorstellungen, Paranoia oder sogar Psychosen gelitten haben. Am frühen Nachmittag klagten die Heilpraktiker und Homöopathen den Berichten zufolge plötzlich über Herzrasen, Atemnot und Schmerzen. Um 14.25 Uhr ging bei den Rettungskräften ein Notruf ein. Stefka Weiland, die Leiterin der Tagungsstätte, war dran und berichtete von orientierungslos herumtorkelnden Heilpraktikern. Später äußerte sich Weiland im NDR sehr betroffen von den Szenen, die sich ihr boten: Die Menschen lagen auf dem Boden, schrien und konnten sich nicht mehr beruhigen. Sie sei froh, dass sie endlich versorgt seien.
... "bis zu epileptischen Anfällen"
Insgesamt mehr als 160 Einsatzkräfte der Feuerwehren, des Deutschen Roten Kreuzes und der Johanniter-Unfallhilfe aus den Kreisen Harburg, Heidekreis, Stade und aus Hamburg rückten an, um die Drogenopfer zu betreuen. Den Angaben der Feuerwehr zufolge litten sie unter Wahnvorstellungen, massiven Krampfanfällen, Schmerzen, Atemnot und Herzrasen. Sie seien beim Eintreffen der Rettungskräfte kaum ansprechbar gewesen. Im NDR spricht der Einsatzleiter davon, noch "nie Menschen in einem derart schlimmen Zustand erlebt" zu haben: Er habe bei ihnen die unterschiedlichsten Bewusstseinszustände angetroffen - "bis zu epileptischen Anfällen". Bei zwei, drei Fällen sei die Hilfe höchste Eisenbahn gewesen, sagt Johannes Freudewald, Pressesprecher des Landkreises Harburg, zur SZ.
Nach der Erstversorgung im satten grünen Rasen von Inzmühlen brachten die Retter die 29 Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren dann in Krankenhäuser zwischen Walsrode und Hamburg. Die Symptome des Konsums von ein paar Milligramm "Aquarust" dauern etwa zwölf Stunden an. So langsam aber sicher dürften sich die Patienten also wieder in der Realität zurechtfinden. Und selbst erzählen, was da eigentlich passiert ist.
Dann wird vielleicht auch ein Polizist neben ihrem Bett stehen und sich dafür interessieren, ob das denn alles freiwillig geschah, wer die Droge besorgt hat - und solche Fragen. Die Polizei hat inzwischen Strafverfahren gegen die Beteiligten eingeleitet. Weil sie die Halluzinogene eingenommen, sich selbst verletzt und somit den Großrettungseinsatz verursacht haben. Ob das dann auch ein Fall für die Staatsanwaltschaft wird, ist noch offen. Ausgetanzt hat es sich für die Betroffenen auf jeden Fall erstmal in Handeloh.