Prozesse - Leer (Ostfriesland):Prozess gegen Chirurg: Aufklärungsmangel bei Prothesen?

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Autos stehen vor dem Klinikum Leer auf einem Parkplatz. Foto: Sina Schuldt/dpa (Foto: dpa)

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Leer (dpa) - Mehr als sieben Jahre nach einem Skandal um defekte Bandscheibenprothesen in Ostfriesland hat ein Prozess wegen Körperverletzung gegen einen 57 Jahre alten ehemaligen Chef-Chirurgen begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem früheren Leiter der Wirbelsäulenchirurgie am Klinikum Leer vor, in 52 Fällen Personen misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben. Demnach soll der Arzt zwischen Dezember 2010 und März 2014 Patienten Prothesen eines bestimmten Herstellers eingesetzt haben, ohne die Patienten vorher ausreichend über genau dieses Implantat aufgeklärt zu haben.

Viele dieser eingesetzten Kunststoff-Implantate hatten sich später als schadhaft erwiesen. Patienten mussten daraufhin erneut operiert werden. Die Anklage führte an, dass im Rahmen der Aufklärung der Patienten vor der Operation zudem auf ein anderes Implantat hingewiesen wurde. Statt des verwendeten Kunstoff-Implantats sei der Einsatz eines Implantats aus Metall versprochen worden. Durch das andere verwendete Material habe keine "wirksame Einwilligung" zu der Operation vorgelegen, begründete die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Körperverletzung.

Kernfrage des Verfahrens sei nun, inwieweit eine solche Einwilligung für die Operation vorlag und ob diese das Einsetzen des verwendeten Implantats abdecke, sagte Gerichtssprecher Heiko Brahms am Freitag. Der Angeklagte erklärte über seinen Anwalt, sich zunächst nicht äußern zu wollen und die Erklärung eines medizinischen Sachverständigen abzuwarten, der zum Auftakt geladen war.

Der Sachverständige erläuterte, dass es mehr als ein Dutzend verschiedener Hersteller für solche Implantate gebe. Diese würden sich zwar in dem verwendeten Material, ob überwiegend aus Kunststoff oder Metall, unterscheiden. Bei der Konstruktions- und Funktionsweise sowie bei den operativen Eingriffen gebe es aber keine nennenswerten Unterschiede. Alle hätten das Ziel, die Beweglichkeit der Wirbelsäule zu gewährleisten, sagte der Mediziner aus Göttingen. Darauf habe auch die Einwilligung der Patienten gezielt.

Zwar sei auf den vor den Operationen unterzeichneten Aufklärungsbögen beispielhaft auch auf die Metall-Implantate hingewiesen worden - dies sei formell aber nicht so zu verstehen, dass genau diese Implantate auch eingesetzt werden sollten, sagte der Experte. Es sei auch nicht üblich, auf den Bögen einzelne Implantate zu benennen.

Viele Geschädigte hatten jahrelang auf den Prozess gewartet. Das Verfahren war unter anderem aus medizinischen Gründen zuletzt immer wieder verschoben worden. Auch ein weiterer Korruptionsprozess im Zusammenhang mit den Bandscheibenprothesen vor dem Landgericht Aurich gegen den Arzt war deswegen im Januar erneut geplatzt. Da das Gericht eine Vielzahl von Nebenklägern zum Prozessauftakt erwartet hatte, wurde die Verhandlung vom Leeraner Amtsgericht in den Saal eines Hotels der Kreisstadt verlegt. Den ersten Verhandlungstag verfolgten rund zwei Dutzend Nebenkläger und Interessierte.

Der Prozess soll in der kommenden Woche mit der Vernehmung eines Ermittlers und von Zeugen fortgesetzt werden. Insgesamt sind Verhandlungen bis in den November angesetzt.

© dpa-infocom, dpa:210603-99-851590/4

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