Prozesse - Kassel:Alkohol in Schwangerschaft: Entschädigung im Ausnahmefall

Deutschland
Eine hochschwangere Frau fasst sich mit beiden Händen an ihren Bauch. Foto: picture alliance / dpa/Symbol (Foto: dpa)

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Kassel/Magdeburg (dpa) - Bei einem versuchten Schwangerschaftsabbruch durch Alkohol können deswegen behinderte Kinder einen Anspruch auf staatliche Entschädigung haben. Das geht aus einem Urteil des Bundessozialgerichts vom Donnerstag hervor. "Ein vorgeburtlicher Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft kann auch einen tätlichen Angriff auf das ungeborene Kind darstellen", sagte die Vorsitzende Richterin in Kassel. Das bedeutet gleichzeitig: Wenn ein Abbruchversuch nicht nachweisbar ist, gehen Betroffene weiter leer aus - wie im Falle einer Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt. (Az. B 9 V 3/18 R)

Das Mädchen wurde 2005 geboren und ist von Geburt an schwerbehindert. Dass daran der Alkohol schuld ist und die Mutter wusste, was sie ihrem Kind antat, haben Gerichte bereits geklärt. Die Jugendliche forderte eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Das wurde für Gewaltopfer gemacht, die der Staat nicht schützen konnte. Das Land Sachsen-Anhalt lehnte die Forderung ab. Eine Grundrente wie im aktuellen Fall liegt nach Angaben des Landes bei rund 400 Euro, mit weiteren Leistungen könne sich die Summe monatlicher Zahlungen auf einen vierstelligen Betrag summieren.

Es geht also neben Rechtsfragen auch um eine Kostenfrage. Denn die Klägerin ist nicht allein: 10 000 Kinder werden laut dem Verband FASD Deutschland pro Jahr bundesweit mit sogenannten fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) geboren. Sie kommen unter anderem zu klein, mit Fehlbildungen und Verhaltensauffälligkeiten auf die Welt. Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland sei betroffen. Spezielle Hilfen gibt es für Betroffene laut dem Verband nicht - oft sind sie auf Grundsicherung angewiesen. Ein Anspruch auf Opferentschädigung sei sehr erstrebenswert, "dann wären unsere Menschen mit FASD auch im Alter abgesichert", sagt die Verbandsvorsitzende Gisela Michalowski.

Doch wiederholt sind entsprechende Klagen von Gerichten abgewiesen worden. Auch im aktuellen Fall: Das Sozialgericht Magdeburg und das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt gaben dem Land Recht. Im Auftrag der Klägerin ging der Sozialverband Deutschland vor das Bundessozialgericht. Die Klägerin selbst war bei der Verhandlung nicht anwesend.

Dass es sich im vorliegenden Fall um ein großes gesellschaftliches Problem handelt, darüber waren sich alle Seiten einig. Es sei allerdings kein Fall für das Opferentschädigungsgesetz, sagte der Vertreter des Landes Sachsen-Anhalt: "Das Verhalten der Mutter mag aus medizinischer Sicht höchst problematisch sein." Es handele sich aber nicht um einen Rechtsbruch. Die Klagevertreterin argumentierte dagegen, es liege ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf das Kind vor. Zudem sei das Opferentschädigungsgesetz nicht explizit an die Strafbarkeit nach dem Strafgesetzbuch gebunden.

Das Bundessozialgericht folgte dem nicht. Das Urteil wertete der Sozialverband dennoch als Erfolg - auch wenn unklar bleibt, wie vielen Betroffenen damit wirklich geholfen ist. "Wir freuen uns, dass das ungeborene Leben im Opferentschädigungsrecht geschützt wird. Wir setzen uns jederzeit für sozial benachteiligte Menschen ein und kämpfen weiterhin für die Teilhabe behinderter Menschen und ihre Partizipationsmöglichkeiten", sagt Sozialverbands-Präsident Adolf Bauer.

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