Prozesse - Hamburg:KZ-Überlebender: Juden lagen vor Selektion auf dem Boden

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Hamburg (dpa/lno) - Im Hamburger Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Stutthof hat ein Überlebender seine Erinnerung an die Ankunft der ersten ungarischen Juden geschildert. Im Herbst 1944 habe er bei der Rückkehr von der Arbeit die Frauen, Männer und Kinder vor dem Stacheldraht des Lagers bei Danzig liegen sehen, ohne Essen und Trinken, aber bewacht von SS-Männern, sagte Marek Dunin-Wasowicz am Mittwoch vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts. Die Baracken für das sogenannte Judenlager seien noch nicht fertig gewesen, als die ersten Transporte aus Ungarn ankamen. Am Tag nach der Ankunft seien die Juden selektiert worden. "Aber das habe ich nicht gesehen", sagte der 93-Jährige aus Warschau.

Angeklagt ist ein gleichaltriger Mann aus Hamburg, dem Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen wird. Als SS-Wachmann soll er zwischen dem 9. August 1944 und dem 26. April 1945 "die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt" haben. Zu seinen Aufgaben habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Weil der Angeklagte zur Tatzeit erst 17 bis 18 Jahre alt war, findet der Prozess vor einer Jugendkammer statt.

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring erinnerte den Zeugen daran, dass er bereits 1968 vor einer Untersuchungskommission in Polen zu den NS-Verbrechen in Stutthof ausgesagt habe. Damals habe er angegeben, dass er von seinem Arbeitsplatz aus gesehen habe, wie ein SS-Mann in nur 20 Meter Entfernung eine Gruppe Juden selektierte und in die Gaskammer führte. Auf die Frage, ob er sich an dieses Geschehen im Lager heute noch erinnern könne, sagte Dunin-Wasowicz nach den Worten einer Dolmetscherin: "Wenn ich das vor 50 Jahren so ausgesagt habe, dann wird das die Wahrheit sein. Heute bin ich nicht imstande, das zu bestätigen."

Meier-Göring fragte weiter, ob im Lager darüber gesprochen worden sei, dass Juden getötet wurden. Der Zeuge reagierte etwas ungehalten: "Entschuldigen Sie, ich bin ein denkender Mensch: Wenn Tausende Juden gekommen sind und niemand sie bei der Arbeit gesehen hat, dann haben sie sich doch nicht in Luft aufgelöst! Irgendwas muss doch passiert sein."

Nach einer Verhandlungspause erklärte die Richterin, dass es ihr nicht darum gehe, die Erinnerungen des Zeugen anzuzweifeln. Sie befrage ihn wie jeden anderen Zeugen. "Ich finde es wichtig, dass das hier kein Sonderprozess ist", sagte Meier-Göring. "Ich weiß, was ein Prozess ist", warf der 93-Jährige ein.

Er berichtete im Folgenden über die völlig unzureichende Versorgung und Unterbringung der Häftlinge. "Wussten Sie, dass es im Krematorium eine Genickschussanlage gab?", fragte die Richterin. Er könne dies nicht mehr unter Eid sagen, antwortete der Zeuge. Der 93-Jährige bat um Entschuldigung, dass sich bei ihm Erinnerung und Wissen vermischten. Dann fügte er hinzu: "Davon habe ich im Lager nicht gewusst."

Bereits am Montag hatte Dunin-Wasowicz berichtet, dass er zusammen mit seinem Bruder am 25. Mai 1944 nach Stutthof gebracht worden sei. Beide waren im Widerstand gegen die deutsche Besatzung aktiv. Nun ergänzte er, dass er am 25. Januar 1945 auf einen "Todesmarsch" geschickt wurde. Um den 8. Februar habe er nachts fliehen können.

Zum Ende der Aussage erklärte der Verteidiger, dass er auch noch Fragen an den Zeugen habe. Wegen der Begrenzung der Verhandlungen auf jeweils zwei Stunden konnte er sie nicht mehr stellen. Das Gericht wollte sich um eine Lösung bemühen. Der Prozess soll am 12. November fortgesetzt werden.

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