Prozesse - Frankfurt am Main:Wut, Angst und Trauma: Baydar sagt zu NSU 2.0-Drohungen aus

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Der Angeklagte (r) und mutmaßliche Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben sitzt auf der Anklagebank. Foto: Boris Roessler/dpa-Pool/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Frankfurt/Main (dpa/lhe) - Sie kam aufgrund von Staus, die durch das Europa League Spiel verursacht wurden, verspätet. Doch die Zeugenaussage von Idil Baydar im Prozess um die "NSU 2.0"-Drohschreiben hatten es in sich. Die Kabarettistin schilderte am Donnerstag vor dem Landgericht Frankfurt geradeheraus, was rassistische Bedrohungen mit den Betroffenen macht - gerade dann, wenn die Ermittlungen lange dauern und auch Polizisten in den Fokus geraten. "Von Wut bis Aggression und Depressionen - ich bin schon traumatisiert", sagte Baydar.

Sie habe gleich nach der ersten Drohnachricht, die sie per SMS auf ihr privates Telefon erhalten hatte, Anzeige erstattet, so Baydar in ihrer Aussage. Auf die Frage der Vorsitzenden Richterin nach dem Vorgehen der Ermittler sagte sie lakonisch: "Eingestellt". Wegen ihres gerade vollzogenen Umzugs von Frankfurt nach Berlin hätten sich weder die Frankfurter noch die Berliner Polizei zuständig gefühlt, vermutete die Künstlerin.

In der zweiten von insgesamt acht SMS-Nachrichten mit Drohungen sei auch ihre Mutter erwähnt worden. "Das hat natürlich Angst ausgelöst. Man ist besorgt, gerade wenn es um die eigene Familie geht", sagte Baydar, die später auch noch per Email bedroht wurde.

Sie habe bereits nach den ersten Drohnachrichten private Sicherheit engagiert, insbesondere für ihre Auftritte, schilderte Baydar. Der mutmaßliche Verfasser der Drohschreiben muss sich in dem Prozess zwar verantworten, doch die Angst vor Trittbrettfahrern oder Mitwissern schränkt Baydars Leben nach wie vor ein. "Ich fahre nicht mehr mit der S-Bahn und anderen öffentlichen Verkehrmitteln. Mein Name steht nicht auf dem Klingelschild." Gleichzeitig müsse sie wegen ihrer Auftritte und ihres Berufs sichtbar sein.

Eigentlich hätte Baydar bereits vor Wochen vor Gericht aussagen sollen, doch damals habe sie sich psychisch nicht in der Lage dazu gefühlt, räumte sie ein.

Teilweise geriet ihre Aussage zu einer Art Anklage, denn die Daten mehrerer von "NSU 2.0"-Schreiben bedrohten Frauen waren von Polizeirechnern abgerufen worden. "Das Verhalten der Behörden ist für mich eklatant", sagte Baydar.

Auch Vertrauen zur Polizei zu haben, sei für sie problematisch, nicht nur wegen der Drohschreiben. "Ich habe den NSU-Fall verfolgt, dann kam Hanau." Als migrantischer Mensch falle es ihr zunehmend schwer, Vertrauen in die deutschen Institutionen zu haben. "Das geht schon alles an die Substanz. Es macht mich wahnsinnig wütend. Ich habe ein Recht auf Unversehrtheit."

In dem Prozess ist der aus Berlin stammende Alexander M. wegen Beleidigung in 67 Fällen, versuchter Nötigung und Bedrohung angeklagt. Die Serie der Drohschreiben hatte im August 2018 mit Todesdrohungen gegen die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz und ihre Familie begonnen. Die Schreiben waren mit "NSU 2.0" unterzeichnet in Anspielung auf die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

Am Vormittag hatte eine Kriminalbeamtin als Zeugin die Ermittlungsarbeit mit digitalen Asservaten und die Auswertung von Email-Daten des russischen Internetportals Yandex geschildert. Mit einer Yandex-Email hatte der Verfasser der Drohschreiben seine Nachrichten an Politikerinnen und Politiker, Rechtsanwälte und Personen des öffentlichen Lebens verschickt.

Auf einer CD, auf der die Inhalte des Email-Postfachs zur Verfügung gestellt wurden, seien außer 58 bereits bekannten Drohschreiben auch fünf bisher unbekannte in einem Ordner festgestellt worden, sagte die Zeugin. Eines der Schreiben habe Drohungen gegen den Grünen-Politiker und heutigen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck enthalten.

© dpa-infocom, dpa:220505-99-168328/3

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