Prozesse - Frankfurt am Main:Weiteres Video des mutmaßlichen Lübcke-Mörders vorgeführt

Deutschland
Ein Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main. Foto: Thomas Lohnes/Getty Images Europe/Pool/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Frankfurt/Main (dpa/lhe) - Wann sagte Stephan Ernst die Wahrheit? Im Juni 2019, als er in seiner Polizei-Vernehmung gestand, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen zu haben - oder in der richterlichen Vernehmung im Januar, als er den Tod des Politikers als Versehen schilderte? Die Videoaufnahme dieser Vernehmung wurde am Dienstag in dem Prozess vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt in Augenschein genommen. Darin hatte der mutmaßliche Täter Stephan Ernst eine ganz andere Tatversion als nach seiner Festnahme geschildert: Der tödliche Schuss habe sich aus Versehen gelöst.

Zusammen mit dem ebenfalls angeklagten Markus H. habe er bereits im April 2019 beschlossen, Lübcke aufzusuchen und einzuschüchtern, sagte der in einen schwarz-gelben Trainingsanzug gekleidete Ernst vor einem Richter des Bundesgerichtshofes. Zunächst ist auf dem Video eine knappe, eher stockend verlesene Erklärung von Ernst zu sehen. H. habe, "glaube ich, Herrn Lübcke aus Versehen erschossen", heißt es darin. In der Vernehmung durch den Richter äußerte sich Ernst dann erneut, wie die beiden Männer am 1. Juni in einem Wagen mit manipulierten Nummernschildern an Lübckes Wohnort gefahren seien und gewartet hätten, bis es dunkel war.

Lübcke habe im Garten seines Hauses auf der Terrasse gesessen, eine Zigarette geraucht und auf sein Smartphone geschaut, sagte Ernst in der Vernehmung. Diese Situation hatte er in beiden Vernehmungen geschildert. In der Version vom Januar war er allerdings nicht alleine da. Markus H. und er hätten sich Lübcke aus zwei Richtungen genähert. Als der Politiker Anstalten machte, sich zu erheben, habe er ihn in den Stuhl zurück gedrückt, schilderte Ernst in der Videoaufnahme. "Für so was wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten", habe er dem Politiker vorgehalten. Er sei dann zurückgetreten, um nach Lübcke zu treten, der noch gerufen habe: "Verschwinden Sie!" Markus H. habe mit der Waffe Lübcke einschüchtern wollen, der Schuss habe sich aus Versehen gelöst.

Seltsam teilnahmslos schildere Ernst diesen Verlauf der Tatnacht, hielt ihm der vernehmende Richter in dem Video vor: "Sie sitzen seit sieben Monaten in Untersuchungshaft wegen Mordes." Angesichts dieser Lage berichte er sehr unaufgeregt über die Rolle seines "Kumpels", wandte der Richter ein, fragte nach der Erfahrung beider Männer im Umgang mit Waffen und den Schießübungen im Wald, die sie wiederholt gemacht hatten.

Ganz anders war die Atmosphäre in dem am vorangegangen Prozesstag gezeigten Vernehmungsvideo: Ein emotionaler, in Tränen ausbrechender Angeklagter war da zu sehen, der beschrieb, wie er immer wieder zum Wohnort Lübckes gefahren war und eine Waffe bei sich hatte. Zu diesem ersten Vernehmungsvideo nahmen die Verteidiger von Markus H. am Dienstag Stellung: H. sei darin nicht belastet worden, sei eine "untergeordnete Randfigur" gewesen, die nicht im Zusammenhang mit der Politisierung von Ernst zu verstehen sei.

"Es ist nicht ganz leicht, diese sehr unterschiedlichen Versionen gegenüber zu stellen" konstatiert in dem Video der Ermittlungsrichter und verweist auf die vielen Details, die Ernst in seinem ersten Geständnis genannt hatte. Vor allem sei nicht nachvollziehbar, warum Ernst damals einen Mord gestanden habe, wenn es sich um einen Unfall gehandelt haben soll. "Mit der DNA und dem Geständnis aus dem Sommer ist die Beweislage für Sie dicht", sagte der Richter. Wenn er Ernst glauben wolle, müsse er den Haftbefehl abändern. Aber: "Ich glaube Ihnen heute nicht. Sie bleiben in Untersuchungshaft wegen Mordes."

Die Bundesanwaltschaft wirft dem Deutschen Stephan Ernst vor, aus rechtsextremistischer Gesinnung heraus gehandelt zu haben. Das zweifelte Björn Clemens, einer der Anwälte von Markus H., an: "Wir haben den vollständigen seelischen Zusammenbruch eines Menschen gesehen", sagte er über das Video der Vernehmung vom Juni 2019, in dem ein aufgewühlter Ernst tiefe Reue bekundete. Das sei ein "gebrochener Mann" gewesen: "So spricht niemand, der politisch tötet."

Womöglich schildert Ernst im Laufe des Verfahrens noch einmal eine ganz neue Version: Am Dienstag ließ er über seine Anwälte eine ausführliche Einlassung ankündigen. Sein Mandant wolle "unmissverständlich klar stellen", dass er zu einem späteren Zeitpunkt zu den Vorwürfen eine Stellungnahme abgeben werde, sagte Frank Hannig, einer der beiden Verteidiger von Ernst. Dazu werde es aber frühestens nach der Sommerpause kommen.

Im hessischen Landtag konstituierte sich am Dienstagabend ein Untersuchungsausschuss zum Mordfall Lübcke und möglichen Behördenpannen. Zum Ausschussvorsitzenden wurde der CDU-Abgeordnete Christian Heinz bestimmt. Das teilte der Landtag mit. Stellvertretender Vorsitzender wird Hermann Schaus von den Linken.

"Der Ausschuss wird noch vor der Sommerpause mit seiner Arbeit beginnen und über die ersten Beweisanträge beraten", kündigte Heinz an. "Als Vorsitzender werde ich mich dafür einsetzen, dass wir unvoreingenommen, gemeinsam und konstruktiv die Aufträge aus dem Einsetzungsbeschluss angehen."

Das Gremium war vergangene Woche mit den Stimmen aller sechs Landtagsfraktionen eingesetzt worden. Der Antrag kam von den oppositionellen Fraktionen von SPD, FDP und Linken.

Im OLG ging es am Dienstag am Rande um mögliche Mitwisser und Netzwerke: So sprach der Ermittlungsrichter in dem Vernehmungsvideo davon, dass ihn "seit Monaten" die Frage umtreibe, warum Markus H. nach dem Hafttermin in Zusammenhang mit Beihilfe die Frage gestellt habe: "Und was ist mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung?" In Erklärungen nach Inaugenscheinnahme des Videos wollten Vertreter der Nebenkläger klären lassen, ob der frühere Anwalt von Ernst dessen Geständnis mit Hinweis auf "Gefangenenhilfe" forciert habe. Falls dies zutreffe, könne es sich um eine rechtsextreme Organisation handeln.

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