Als die Gerichtsmediziner in Hamburg im Dezember 2013 die Leiche der kleinen Yağmur untersuchen, offenbaren sich auf erschütternde Weise die höllischen Qualen, die die Dreijährige erlitten haben muss. Todesursache: innere Blutungen infolge eines Leberrrisses, so steht es im Obduktionsbericht. Der kleine Körper ist übersäht mit Quetschungen und blauen Flecken, die die Peiniger notdürftig mit Schminke überdeckt haben, damit sie nicht so sehr auffallen.
Für den Tod des Kindes müssen sich von diesem Mittwoch an die Eltern vor dem Landgericht Hamburg verantworten. Die Mutter ist wegen Mordes angeklagt, der Vater wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen. Beide sitzen derzeit in Untersuchungshaft.
Abseits des Strafprozesses gegen die Eltern gibt es massive Kritik an den zuständigen Ämtern, die vieles übersehen haben. Auf den Tod des Mädchens folgt die öffentliche Empörung: Warum konnte niemand Yağmur retten? Warum griffen Jugendämter, Pflegeeltern, Ärzte und Richter nicht ein?
Bereits kurz nachdem Yağmur im Oktober 2010 geboren wird, wird sie in die Obhut einer Pfegefamilie übergeben. Ihre 27-jährige leibliche Mutter lebt zu diesem Zeitpunkt in einer Obdachlosenunterkunft und fühlt sich überfordert, Yağmurs 25-jähriger Vater ist der Polizei als Schläger bekannt.
Die Eltern behalten zunächst das Sorgerecht und dürfen das Kind regelmäßig besuchen. Sie machen immer klar, dass sie Yağmur zurückhaben wollen, wenn sich ihre familiäre Situation stabilisiert hat.
Obwohl diese Stabilisierung anscheinend nie eingetreten ist, findet eine Rückführung des Kindes durch das Jugendamt statt. Doch der Kontakt zur Familie ist anscheinend nur sehr locker, so dass eine wirksame Hilfe unterbleibt und auch nicht kontrolliert wird, unter welchen Umständen Yağmur bei ihren leiblichen Eltern wohnt.
Im Dezember, eine Woche vor Weihnachten, können die Notärzte nur noch den Tod des Mädchens feststellen. In der Wohnung ihrer Mutter stirbt die Dreijährige infolge schwerer Misshandlungen.
80 Hämatome und schwere Schädelverletzungen
Die Ärzte finden an Yağmurs Körper nach ihrem Tod 80 Hämatome. Schon zuvor hatte die Pflegemutter dem Jugendamt immer wieder Verletzungen gemeldet. Wenn ihre leiblichen Eltern sie bei ihrer Pflegefamilie abholten, soll Yağmur sich heftig gewehrt, sogar um sich getreten und geschlagen haben. Im Januar 2013 kommt Yağmur ins Krankenhaus, weil Schädel und Bauchspeicheldrüse schwer verletzt sind. Die Ärzte operieren und erstatten Anzeige wegen Kindesmisshandlung.
Kurzzeitig wird Yağmur in einem Kinderschutzhaus untergebracht. Denn es ist unklar, ob die leiblichen Eltern oder die Pflegemutter für die Verletzungen verantwortlich sind. Das Jugendamt Eimsbüttel leitet ein Verfahren beim Familiengericht ein, um den Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Das Paar bestreitet, seinem Kind etwas angetan zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Im Mai 2013 erreicht das Jugendamt ein Schreiben der Pflegemutter, in dem diese angibt, möglicherweise für die Verletzungen Yağmurs verantwortlich zu sein. Laut Prüfbericht der Jugendhilfeinspektion wertet das die zuständige Mitarbeiterin in einer Beratung mit Kollegen als Entlastung für die leiblichen Eltern. Umgehend wird entschieden, den leiblichen Eltern das Kind wieder zu geben - obwohl die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen hat.
Tod der dreijährigen Yagmur:Multiples Versagen
Im Dezember starb ein dreijähriges Mädchen in Hamburg, zu Tode gequält wohl von der eigenen Mutter. Die bisherigen Ergebnisse des Untersuchungsausschusses sind ernüchternd: Die Behörden ignorierten alle Warnzeichen - und sehen ihre Fehler oft gar nicht ein.
Ein fataler Fehler, wie sich wenige Monate später herausstellt.
Den muss sich auch die in dem Fall zuständige Familienrichterin vorwerfen lassen. Sie soll nicht gründlich genug nachgefragt haben. Sie hätte, so der Vorwurf von verschiedenen Seiten, zum Beispiel den Arzt, der Anzeige erstattet hat, fragen können, von wann die Verletzungen stammen. "Ich bin unendlich traurig darüber, dass Yağmur tot ist, das geht nicht spurlos an einem vorüber", sagt die Richterin.
Drei Jugendämter und etliche Mitarbeiter arbeiten im Laufe der Zeit an dem Fall, in den Stadtteilen Bergedorf, Mitte, Eimsbüttel. Nach dem Prinzip der stillen Post gehen wichtige Informationen verloren. Im Juli 2013 zieht die Familie um, das Jugendamt Eimsbüttel ist nicht mehr zuständig. Die Informationen werden weitergetragen, aber nicht alle Details kommen im Jugendamt Mitte an. Dann wird die zuständige Mitarbeiterin krank und übergibt den Fall erneut. Wieder geht ein wichtiger Teil einer verworrenen Familiengeschichte verloren.
"Strukturelle Überbelastung" in Hamburger Jugendämtern
Ein Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft versucht inzwischen zu klären, was schiefgelaufen ist. Seit März tagt der Ausschuss, schon kommenden Januar muss der abschließende Bericht vorliegen. Nicht viel Zeit, um die Fehler im System der Hamburger Sozialbehörden aufzudecken.
Vergangenen Dienstag befasste sich der Ausschuss mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Die Mitarbeiter des ASD seien überarbeitet, so lautete das Zwischenfazit. Zu viele Projekte und zu wenig Mitarbeiter überlasteten den Dienst. Bis zu 100 Fälle müsse ein Sachbearbeiter gleichzeitig bewältigen. Die Umstellung auf ein neues Computerprogramm sorge für zusätzliche Bürokratie.
Nach dem Fall Chantal - einer Elfjährigen, die im Jahr 2012 bei ihren drogensüchtigen Eltern an einer Überdosis des Heroin-Ersatzstoffes Methadon starb - versprachen die Behörden schon einmal, präziser zu arbeiten. Schon damals hatte eine Studie der Universität Koblenz den Hamburger Jugendämtern "strukturelle Überbelastung" attestiert.
Ein halbes Jahr ist er nun her, der Mord an Yağmur. Inzwischen sieht die Staatsanwaltschaft die Mutter als Hauptbeschuldigte. Zunächst richtete sich der Verdacht in erster Linie gegen den Vater. Doch nachdem Zeugen aus dem Umfeld der Familie vernommen wurden, änderte sich die Einschätzung der Ermittler.
Der Prozess soll nun klären, was genau am 18. Dezember 2013 geschehen ist. Der Untersuchungsausschuss soll Ideen liefern, wie Jugendamt und Sozialer Dienst künftig besser auf Warnsignale reagieren können. Was an beiden Stellen wohl nicht geklärt werden kann, ist die Frage, die sich als Erstes stellt: Was bewegt eine Mutter dazu, ihrem Kind so etwas anzutun?