Süddeutsche Zeitung

Prozessauftakt:Spekulation mit dem Tod

  • Sergej W. soll am 11. April 2017 drei Bomben neben dem Mannschaftsbus von Borussia Dortmund gezündet haben.
  • Die Angklage geht davon aus, dass er auf fallende Aktienkurse gewettet hatte - und mit dem Anschlag bewirken wollte, dass sie tatsächlich einbrechen.
  • Nun steht der 28-Jährige vor dem Dortmunder Landgericht, ihm werden 28-facher Mordversuch und die Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion vorgeworfen.

Von Annette Ramelsberger

Ist nicht längst alles klar? Da wollte ein geldgieriger, hinterlistiger Elektronikmeister aus dem Schwäbischen das ganz große Geld machen. Mit einer Wette auf fallende Kurse. Und dafür, dass diese Kurse fallen würden, wollte er selbst sorgen. Der Mann zündete am 11. April um 19.16 Uhr drei Bomben direkt neben dem Mannschaftsbus des Fußballvereins Borussia Dortmund (BVB), dem einzigen börsennotierten Verein der Bundesliga. So sieht es der Staatsanwalt. Das Kalkül, so die Ermittler: Wenn Spieler durch die Explosion schwer verletzt oder sogar getötet werden, dann könnte der BVB auf Wochen hinaus keine Spiele mehr bestreiten. Dann würde der Kurs rapide fallen. Und Sergej W., der Elektronikmeister aus Schwaben, wäre ein gemachter Mann. Die Anklage hat genau errechnet, was er verdient hätte, wenn der Kurs der BVB-Aktie von damals 5,61 Euro auf dann nur noch einen Euro gefallen wäre: genau 506 275 Euro.

W. hatte sich zuvor 44 000 Euro über Bankkredite besorgt, dann setzte er 26 000 Euro auf hochriskante Hebelgeschäfte - riskant für den, der die Zukunft nicht kennt. Denn bei diesen Geschäften ist schnell das ganze Geld weg. Totalverlust nennen das die Banken. Für einen, der die Zukunft aber kennt, der sie beeinflussen kann, wäre so ein Hebelgeschäft gar nicht riskant. Es wäre eine im wahrsten Sinne des Wortes todsichere Nummer.

Und genau das wirft die Staatsanwaltschaft dem Mann vor, der von Donnerstag an vor dem Landgericht Dortmund steht. Sergej W., 28 Jahre alt, ledig, geboren im russischen Tscheljabinsk, 2003 mit seiner Familie nach Deutschland gekommen, wohnhaft im kleinen Freudenstadt in Baden-Württemberg, ist des 28-fachen Mordversuchs und der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion angeklagt. Er soll, so die Staatsanwaltschaft, mit drei grün angestrichenen und in einer Hecke versteckten Sprengsätzen versucht haben, Spieler und Betreuer des BVB zu töten, die von ihrem Mannschaftshotel zu einem Champions-League-Spiel in das Stadion von Dortmund fuhren.

Für die Anklage ist das Motiv eindeutig

Was da in Dortmund geschah, nennen manche Anwälte sarkastisch die "brutalste Spielart des Kapitalismus". Vielfacher Mord, um die Aktienkurse zu drücken. Das ist, so die Anklage, heimtückisch, gemeingefährlich und habgierig. Für sie ist das Motiv eindeutig: Der Angeklagte habe gehandelt, um sich zu bereichern.

Medien haben bereits berichtet, dass der Angeklagte gern Goldkettchen trägt, dass er vor dem Anschlag noch in den Saunaklub gegangen ist. Dass er, nachdem er die Bomben gezündet hatte, sich das Essen im Hotelrestaurant schmecken ließ und eine Massage im Wellnessbereich genoss. Der zuständige Staatsanwalt hatte schon vor Prozessbeginn erklärt, dass für ihn etwas anderes als eine lebenslange Strafe nicht infrage komme.

Und dann kommt da W.s Verteidiger und spricht von einem "leidenden Menschen". Von einem, der überhaupt nicht luxus-affin sei, sondern sehr fleißig. "Der will keinen Porsche", sagt Verteidiger Carl W. Heydenreich. Er stellt damit das Bild auf den Kopf, das sich die Öffentlichkeit bisher von diesem Angeklagten gemacht hat. Sergej W. sei nicht kalt und mechanisch und habgierig, sondern verzweifelt.

Möglicherweise meint Heydenreich Sätze aus einem elektronischen Tagebuch, die der Angeklagte über viele Wochen geschrieben haben soll. Darin soll er mit sich und der Welt gehadert haben. Er habe nichts, so schrieb er offenbar, wofür es sich zu leben lohne. Schon in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim, wo er zunächst saß, hatte ihn der Anstaltsleiter auf Suizidgefährdung untersuchen lassen. Ist das der habgierige, zielgerichtete Proll, der mal eben 28 Menschen für seinen Profit opfert?

Auch das muss dieser Prozess klären. Die Vorgehensweise des Angeklagten ist bis ins Kleinste ermittelt worden: Wann und wie er Bankkonten einrichtete, wie er sich darauf die Kreditsummen überweisen ließ. Wie er die Komponenten für die Bomben kaufte, weit weg von seinem Heimatort, im 160 Kilometer entfernten Mannheim. Wie er das Zimmer in dem Hotel anmietete, wo sich auch die BVB-Spieler aufhielten, für beide möglichen Spieltermine. Wie er sich ein Zimmer hat geben lassen mit Blick auf den Parkplatz, wo der Bus abfuhr.

Die Ermittler haben auch Mantrailer-Hunde eingesetzt, sie verfolgten die Spur des Angeklagten von einem nahen Waldstück bis zu der Hecke. Und sie haben genau ausgerechnet, dass W. auf dem Weg von Schwaben nach Dortmund zehn Liter mehr Diesel getankt hat, als in seinen Tank passte - und schließen daraus, dass er den Diesel dafür verwendete, um in dem Wald beim Hotel ein Feuer zu entfachen, das seine Tatvorbereitungen verbergen sollte. Zur Vorbereitung gehörten auch Bekennerschreiben, die auf den "Islamischen Staat" als Täter hinweisen sollten.

Was wollte W. wirklich?

Es ist ein ziemlich ausgeklügelter Plan, den der Angeklagte - von den Ermittlern sehr gut dokumentiert - verfolgte. Aber was ist mit der inneren Tatseite, fragt der Verteidiger. Was wollte W. wirklich? Für Heydenreich läuft eine Vorverurteilungskampagne gegen den Angeklagten, die seiner Person nicht gerecht werde, die Akten seien durchgestochen worden, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Er hat Strafanzeige gestellt gegen unbekannt.

Wie es dem Angeklagten geht, ist für die Fans des BVB nun weniger interessant. Für sie zählt etwas anderes. Bomben gegen den BVB, das sind auch Bomben gegen den Ruhrpott, gegen ihr Selbstgefühl, gegen alles, auf was sie stolz sind. Das Landgericht Dortmund erwartet zur Verhandlung genau diese Fans. Menschen, die um ihre Spieler bangten. Alle 18 Spieler, die damals im Bus saßen, werden als Zeugen auftreten, auch Marc Bartra, der als einziger körperlich verletzt wurde. Drei Zentimeter neben seinem Kopf schlug eines jener Projektile ein, die der Angeklagte in seinen Bomben verbaut haben soll - mindestens 65 Metallstifte, eingegossen in Epoxidharz.

Als Zeuge wird ebenfalls der frühere Trainer Thomas Tuchel erscheinen, der auch wegen des Umgangs des BVB mit dem Anschlag den Verein verließ. Er und die Spieler werden nur wenige Meter vom Angeklagten entfernt sitzen, hinten warten die Fans auf ihre Jungs. Es dürfte emotional werden.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2017/spes
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