Süddeutsche Zeitung

Prozessauftakt im Fall Tuğçe:Tag der Tränen

Sichtlich bewegt entschuldigt sich der 18-jährige Angeklagte für seine Tat, die Familie des Opfers ringt um Fassung und die Aussage der Mädchen, die Tuğçe beschützen wollte, bringt das bisherige Bild ins Wanken.

Von Susanne Höll, Darmstadt

Als der junge Mann mit dem weißen T-Shirt um kurz nach neun Uhr den Saal 3 im Darmstädter Landgericht betritt, verliert Sultan Albayrak ihre mühsam bewahrte Fassung. Über das Gesicht, in dem man die Züge ihrer Tochter Tuğçe erkennt, fließen Tränen. In die Augen schauen kann sie Sanel M. nicht. Dem jungen Mann, der Schuld trägt am Tod ihres Kindes.

Sanel M. hält sich einen großen brauen Briefumschlag vor den Kopf, als Schutz vor den Fotografen. An seinem Platz angekommen, schaut er auf die Tischplatte. Er meidet den Blick zurück, dorthin, wo die Eltern und Brüder der Studentin sitzen, die er in den frühen Morgenstunden des 15. November in Offenbach nach einer Streiterei auf einem Imbiss-Parkplatz ins Gesicht geschlagen hatte. Die junge Frau stürzte zu Boden, zog sich schwere Schädelverletzungen zu und starb. An diesem Freitag treffen der Schläger und die Angehörigen das erste Mal aufeinander. Keine einfache Sache für alle Beteiligten.

Auch der Angeklagte ist sichtlich aufgewühlt. Gleich wird er zum ersten Mal seit seiner Festnahme im November öffentlich das Wort ergreifen. Gerade hat die Staatsanwaltschaft ihm Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen. Darauf steht eine Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis, mehr als sein halbes Leben. Sanel M. ist 18 Jahre alt.

Seine Stimme ist unsicher, aber noch klar, als er zu sprechen beginnt: "Ich habe Tuğçe in der Tatnacht eine Ohrfeige gegeben." Er macht eine kurze Pause. Und sagt dann unter Tränen: "Es tut mir unendlich leid, was ich gemacht habe." Im Zuschauerraum sitzen die Großeltern Tuğçes, weißhaarige Herrschaften, die, wie auch die Mutter, T-Shirts mit dem Foto der jungen Verstorbenen unter ihren Jacken tragen. Sie verstehen nicht alles, ein Landsmann übersetzt. Die Großmutter atmet schwer.

Niemals habe er damit gerechnet, dass die Studentin sterben könnte, fährt Sanel M. fort. Mit erstickter Stimme fügt er noch den Satz hinzu: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, welches Leid ich damit der Familie angetan habe."

Der Anwalt der Familie Albayrak wird später sagen, dies seien "floskelhafte" Sätze gewesen. Oberstaatsanwalt Alexander Homm hingegen entdeckt in Sanel M.s Worten "Emotion und Reue". Mitgenommen ist der Angeklagte auf jeden Fall.

Spätestens mit dem ersten Verhandlungstag muss Sanel M. eine Vorstellung haben, wie die Angehörigen leiden. Tuğçes Bruder Dogus kommt zu Wort. Er erzählt von der Schockstarre, die die Familie befiel, vom Schmerz und den fatalen Folgen. Vater und Mutter sind arbeitsunfähig, sein Bruder brach die Ausbildung ab, er selbst nimmt eine Auszeit von der Uni.

Sanel M., über dessen Leben man bislang nur aus zweiter Hand erfuhr, erzählt dann auch ein wenig von sich selbst. Es ist die Geschichte eines Jungen, der ziemlich früh auf eine ziemlich schiefe Bahn geriet. Geboren und aufgewachsen ist er in Offenbach. Seine Eltern stammen aus Serbien, er hat zwei jüngere Brüder. Ein offenkundig aufgewecktes Kind, zunächst ein guter Schüler. Die Lehrer sagen nach der vierten Klasse, Sanel solle aufs Gymnasium gehen. Der Junge selbst will nicht, der Vater schon. Es geht nicht gut.

In der fünften Klasse bleibt der Junge sitzen, er wechselt die Schule, die Noten sind nicht schlecht. Aber irgendwann rutscht Sanel ab, klaut und wird aggressiv. 2012 fliegt er von der Schule, hat ein Verfahren wegen Körperverletzung am Hals.

"Ich habe viele Fehler gemacht", sagt der junge Mann im Gerichtssaal. Er schafft den Hauptschulabschluss, will erklärtermaßen eine Lehre beginnen. Seit dem Sommer 2014 schreibt er Bewerbungen, stellt sich bei Firmen vor - und führt zugleich ein sorgloses Leben. Er sucht sich keinen Job. Wenn er Geld braucht, bittet er die Eltern. Sanel spielt Fußball, joggt und feiert, ab und zu, wie er sagt, mit seinen Kumpeln. Dann gibt es Whiskey, gemischt mit Cola. Wenn er trinkt, werde er "reizbar", sagt der junge Mann.

So muss es auch in der Tatnacht gewesen sein. Sanel M. hatte gezecht und mindestens 0,8 Promille Alkohol im Blut, als er und seine Freunde in dem Imbiss auf Tuğçe und deren Freundinnen treffen, die ebenfalls gefeiert hatten. Die Studentin eilte zwei 13 Jahre alten Mädchen zu Hilfe, die in der Toilette saßen, umringt von Sanel M. und dessen Freunden. Die jungen Männer hätten die Mädchen bedrängt, hatten Tuğçes Freundinnen ausgesagt.

An dieser Version gibt es aber Zweifel. Oberstaatsanwalt Homm jedenfalls berichtet am Freitag von der Aussage der Mädchen, die nachmittags wegen ihres jugendlichen Alters unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen worden sind. Demnach hatten die 13-Jährigen nach einiger Zeit genug von den jungen Männern. Bedrängt hätten sie sich aber nicht gefühlt. Und sie wären, so sagen sie, mit der Situation auch allein zurecht gekommen.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2015
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