Prozess wegen Kindsmord:Keine Anzeichen für Misshandlung bemerkt

Lesezeit: 3 min

Schon am ersten Prozesstag war die junge Frau auf der Anklagebank im Wetzlarer Amtsgericht mehrmals in Tränen ausgebrochen. Sie erzählte anfangs mit unsicherer, dann mit fester Stimme, was sich im Elternhaus der zu Tode gequälten Siri abgespielt hat. Dort war sie zwei Mal zu Besuch gewesen. "Ich habe selten so kooperative Eltern erlebt", berichtete sie.

Ein anonymer Hinweis hatte das Jugendamt auf die Spur der Familie gebracht. Ein Anrufer meldete, bei der Familie seien ständig die Rollläden heruntergelassen, die Eltern seien "Grufties" und gingen mit dem Kind nur abends spazieren. Daraufhin hatte die Sozialarbeiterin die Eltern zunächst zu einem Gespräch ins Jugendamt eingeladen, zu dem nur der Vater kam.

Um auch Mutter und Kind kennenzulernen, suchte sie die Familie etwa vier Wochen später erneut auf. Mit Siris Mutter habe sie wenig geredet, die aus Kanada stammende Frau spreche nur Englisch. Anzeichen dafür, dass es Siri nicht gut gehe, habe sie bei ihrem Besuch im Dezember 2007 nicht bemerkt. Auch bei ihrem zweiten Hausbesuch im April 2008, einem routinemäßigen Nachsorgetermin, sei ihr nur ein Pflaster auf Siris Stirn aufgefallen, erzählte die junge Frau. Der Erklärung der Eltern, das Baby habe sich beim Krabbeln gestoßen, habe sie geglaubt.

Auch Siris Mutter war am ersten Prozesstag als Zeugin gehört worden. Sie gab Siris Vater alle Schuld an den Misshandlungen. Der Mann sei dominant und manipulativ. Ihr Lebensgefährte habe die Sozialarbeiterin hinters Licht geführt. Die Angeklagte treffe "keine Schuld", sagte die Mutter.

Laut den ärztlichen Gutachtern wurden Siri einen Tag vor dem Hausbesuch im April 2008 Hämatome im Gesicht zugefügt. Im Mai sei sie derart abgemagert gewesen, dass die Augen des Babys tief in den Höhlen gelegen hätten. Erst ein zweiter Hinweis aus der Nachbarschaft alarmierte die Behörde Ende April 2008 erneut. Eine Nachbarin, die im Kinderschutzbund aktiv ist, meldete Zweifel an Siris Wohlergehen. Auf der Straße sei ihr aufgefallen, dass das Kind "spindeldürr" sei.

Die Sozialarbeiterin erreichte die Eltern nicht, fand schließlich über den Kinderarzt heraus, dass Siris Eltern nicht zu den anstehenden Vorsorgeuntersuchungen erschienen waren. Sie sprach Siris Vater auf die Mailbox, er solle umgehend einen Arzttermin vereinbaren. Dann, Anfang Mai, verabschiedete sich die Jugendamtsmitarbeiterin für zwei Tage in den Urlaub. "Als ich zurückkam, bekam ich die Nachricht, dass das Kind tot sei", sagte sie am ersten Prozesstag.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema