Als er gerade hinein will in den Saal 232 des Kieler Landgerichts, kommen alle schon wieder heraus. Der schmale Mann mit dem spitzen Gesicht, der dunklen Brille und der Jeansjacke läuft dem Medienpulk direkt in die Arme, sie drängen ihn an die Wand neben der Flügeltüre. "Wie geht es Ihnen heute?", eröffnet eine Reporterin, aber der Mann antwortet nicht, sein Blick huscht, dem eines scheuen Rehs gleich, zur Seite, zum Boden.
Immer mehr Kameramänner schalten ihre Lampen an, kleine Spotlichter blenden den Mann. "Wer ist das denn?", fragen sie hinten im Pulk. "Das ist der Vater", antwortet jemand von vorne. Dann endlich schiebt ein Gerichtsdiener einen Tisch zur Seite und bahnt dem Vater, der keine Kinder mehr hat, den Weg in den Gerichtssaal.
Michael K. ist Nebenkläger im Prozess gegen Steffi K., seine Frau. Einem Radiosender hat er gesagt, er wolle die Verhandlung persönlich verfolgen, um das Geschehen zu verarbeiten. Aber er wollte den Medien ausweichen, deswegen kam er so spät wie möglich ins Kieler Landgericht.
Der Prozess sollte in wenigen Augenblicken beginnen, er wäre als Letzter reingekommen. Doch "mit der Ladung einer Schöffin ist etwas schiefgegangen", sagt der Vorsitzende Richter Jörg Brommann, und ohne Schöffin könne er nicht anfangen. "Platzen lassen will ich das aber auch nicht", sagt er, und so verschiebt er den Auftakt im sogenannten Darry-Prozess um eine Stunde. Die Pressevertreter, die drei Viertel der Plätze im Saal belegt haben, strömen nach draußen, um ihre Redaktionen zu informieren - und Michael K. kommt unter die Mikros.
Tiefster Schmerz
Er wohnt seit vier Monaten wieder in dem kleinen Haus in der schmalen Straße in dem niedlichen Ort Darry im Landkreis Plön, in dem am Nachmittag des 5.Dezember 2007 fünf tote Kinder gefunden worden waren. Steffi K. hatte sie getötet, an diesem Tag oder dem Abend zuvor, die Mutter all dieser Kinder. Michael K. war der Vater der drei jüngsten, er war an dem Tag nicht zu Hause. Seine Frau trifft er im Gericht, fast sieben Monate später, zum ersten Mal wieder.
Es ist kein großer Prozess, in dem der Tod von Justin, 9, Jonas, 8, Liam, 6, Ronan, 5, und Aidan, 3 Jahre alt aufgeklärt werden soll. Es gibt nicht mehr viel zu klären, Staatsanwalt Michael Bimler sagt, Steffi K. sei zum Zeitpunkt der Tat nicht schuldfähig gewesen. Sie sei psychisch gestört. Sie wird deshalb beschuldigt, die Kinder getötet zu haben, ohne Mörderin zu sein. Sie soll dort bleiben, wo sie jetzt schon ist, in der Psychiatrie. Darüber wird in Kiel in einem Sicherungsverfahren entschieden. Vier Verhandlungstage, zwölf Zeugen. Aber Tat und Trauer macht das nicht geringer.
Michael K. hat sich zu viel zugemutet. Als der Staatsanwalt vorliest, was an dem Tag im Keller des Einfamilienhauses in Darry passiert ist, während er gerade mit dem Zug von Eutin nach Berlin fuhr, um Freunde zu besuchen, bricht er in Tränen aus. Es ist ein Zusammenbruch tiefsten Schmerzes. Michael K. hat einen Schlüsselanhänger mit ins Gericht gebracht, den er auf seinem Tisch liegen hat, ein Foto der Kinder, das er streichelt und drückt.
Als er hört, wie sie leben wollten, obwohl ihre Mutter ihren Tod beschlossen hatte, wie sie kämpften, da ist es um ihn geschehen. Der Staatsanwalt fährt, den bitterlich weinenden Mann keine zwei Meter von ihm entfernt, mit der Anklage fort.
Steffi K., sagt die Staatsanwaltschaft, habe die Hauptstadt-Reise für ihren Mann geplant. Es hatte Probleme in der Ehe gegeben, vielleicht hat sie ihm das so verkauft: Nimm' dir doch mal eine Auszeit. Fahr' nach Berlin.
Später hieß es immer, er habe seine Familie verlassen; Michael K. musste selbst an die Öffentlichkeit gehen, um das zu korrigieren. Steffi K. besorgte die Bahntickets und die Unterkunft in Berlin, ein Hotel für die erste Nacht. Michael K. fuhr am 4. Dezember 2007 los. Es war ein Teil ihres Plans.
Das Stichwort heißt paranoide Schizophrenie. Steffi K. hörte Stimmen aus dem Jenseits, die ihr von Dämonen und anderen Bedrohungen erzählten. Sie sei seit Jahren krank gewesen, sagt der Staatsanwalt, besonders eine gewisse "Natalie" habe ihr aus dem Jenseits zugesetzt, sie und ihre Kinder bedroht.
Andere Stimmen hätten ihr wiederum suggeriert, nur selbst im Jenseits sicher zu sein; nur dort seien die Kinder gut aufgehoben. Sie wollte nach den Kindern auch sich selbst töten, der Suizid scheiterte. Direkt nach der Tat hatte Michael K. gesagt, er habe ihre schizophrenen Schübe sogar auf Tonband gehabt und weitergegeben, aber es sei keine Hilfe gekommen. Wenn die Leute vom Amt kamen, sagte er, sei Steffi immer normal gewesen. Wenn sie gingen, kam der Wahn zurück.
Eine blasse, große Frau mit fahlem, braunen Haar. Erst 32.
Steffi K. verfolgt die Verlesung der Anklageschrift im Gericht. Sie ist zwar krank, aber es ist doch eine Gerichtsverhandlung und sie die Beschuldigte, das muss sie aushalten. Sie hatte nach der Tat in einer psychiatrischen Klinik einem Arzt offenbart, ihre Kinder getötet zu haben. Im Gericht weint sie nicht.
Sie hat sich eine Stelle im Boden ausgesucht, die starrt sie an. Eine blasse, große Frau mit fahlem, braunen Haar. Erst 32. Der Staatsanwalt beschreibt, wie sie, als der Mann verreist war, die Kinder in den Keller brachte, wo sie ein Matratzenlager hergerichtet hatte. Sie gab ihnen ein frei käufliches Schlafmittel, allen Fünfen. Ein Kind tötete sie damit direkt, einem anderen verabreichte sie eine Überdosis, zwei schliefen, bei einem wirkte es überhaupt nicht. Im Keller zog sie den Kindern mehrere Mülltüten über den Kopf.
Die Stelle, an der Michael K., Vater von Aidan, Ronan und Liam, zusammenbricht, ist die, in der er erfährt, dass seine Kinder leben wollten. Mindestens zwei der Jungs haben versucht, sich die Tüten vom Kopf zu ziehen.