Prozess um Katastrophe von L'Aquila:Nachbeben vor Gericht

"Sie können sich jetzt einen ruhigen Abend machen", sagten die Wissenschaftler. Kurze Zeit später bebte die Erde in L'Aquila und 308 Menschen starben. Nun stehen sechs hochrangige Spezialisten vor Gericht: Ihnen wird vorgeworfen, die Gefahr verharmlost zu haben.

Jeanne Rubner

Am Abend des 5. April 2009 führten der Chirurg Vincenzo Vittorini und seine Frau Claudia ein ernsthaftes Gespräch darüber, wo sie die Nacht verbringen sollen. Seit Monaten schon bebte die Erde in dem Abruzzen-Städtchen L'Aquila leicht, an diesem Abend des Palmsonntags aber rumorte sie heftiger als sonst. Fabrizia, die neunjährige Tochter, hatte Angst.

G8 L'Aquila Summit Concludes

Eine Stadt in Trümmern: 308 Menschen verloren bei dem Erdbeben von L'Aquila ihr Leben - fehlerhafte Prognosen von Wissenschaftlern sollen mit schuld daran sein.

(Foto: Getty Images)

Also überlegten Vincenzo und Claudia, ob sie nicht doch lieber im Freien übernachten sollen. Am Schluss blieben sie in ihrer Wohnung - schließlich war den örtlichen Behörden zufolge das Risiko eines Erdbebens nicht größer als sonst.

Wenige Stunden später, am 6. April kurz nach halb vier Uhr Morgens, fiel der Beton-Wohnblock der Familie Vittorini wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ein Beben der Stärke 6,3 erschütterte die mittelalterliche Stadt L'Aquila. Claudia und Fabrizia Vittorini waren sofort tot. Vincenzo überlebte, er wurde sechs Stunden nach dem heftigen Erdstoß aus den Trümmern des Hauses herausgezogen. Insgesamt 308 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben.

Auch der Lokaljournalist Giustino Parisse verließ sich am Abend des 5. April auf die Beruhigungsformeln der örtlichen Behörden. Nach der Krisensitzung einer hochrangig besetzten Wissenschaftlerkommission am 31. März hatten sie Entwarnung gegeben. Die anhaltende Serie schwacher Erdstöße sei nicht der Vorläufer eines starken Bebens - ganz im Gegenteil, beschwichtigte der Ingenieur Bernardo De Bernardinis.

Die schwachen Stöße führten sogar dazu, dass sich die seismische Energie entlade. "Sie können sich jetzt einen ruhigen Abend machen und ein Glas Montepulciano genießen" - das waren die letzten Worten von De Bernardinis. Für die Familie Parisse waren sie verhängnisvoll. Als in der Nacht ihr Haus einstürzte, starben Parisses damals 16 und 17 Jahre alten Kinder.

Geht es nach Giustino Parisse und Vicenzo Vittorino, dann müssen De Bernardinis und fünf seiner Kollegen verurteilt werden - wegen Totschlags. Sie hätten die Gefahr eines Bebens verharmlost. Ihnen drohen bis zu 15 Jahren Haft und darüber hinaus Schadenersatzforderungen von 22 Millionen Euro.

An diesem Dienstag beginnt der Prozess. Sein Ausgang ist ungewiss - so ungewiss wie Erdbebenvorhersagen es sind. Auch deshalb ist die Wissenschaftlergemeinde in Aufruhr. "Es ist das erste Mal in einem Rechtsstaat, dass Forscher wegen angeblich fehlerhafter Prognosen angeklagt werden", warnt Marco Bohnhoff, Professor am Geoforschungszentrum in Potsdam. Dabei sei man doch weit davon entfernt, Erdbeben vorhersagen zu können. "Im Gegenteil, wir gehen immer mehr davon aus, dass sie nicht vorhersehbar sind", sagt Bohnhoff.

In L'Aquila sitzen nicht nur sechs Erdbebenspezialisten auf der Anklagebank, sondern gewissermaßen alle Seismologen. Die Schockwellen der Anklage verbreiten sich weltweit, mehr als 5000 Forscher haben einen offenen Brief an Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano unterzeichnet. Die Vorwürfe seien unhaltbar, heißt es. Man wisse schließlich, dass Italien und insbesondere die Abruzzen gefährdet seien. Wenn es zur Katastrophe gekommen sei, dann vor allem aus dem Grund, dass Gebäude nicht erdbebensicher waren.

Und hinter vorgehaltener Hand sagen viele Forscher, dass es sich bei dem Prozess um ein Manöver der Regierung Berlusconi handele, die von ihrer Unfähigkeit ablenken wolle. Noch immer leben mehrere zehntausend Bewohner von L'Aquila in Notunterkünften.

Entwarnung haben die Forscher nicht gegeben

Ganz anders sieht das die Staatsanwaltschaft von L'Aquila. Man wisse auch, dass Erbeben praktisch nicht vorhersagbar seien, sagt Staatsanwalt Alfredo Rossini. Bekannt sei auch, dass viele Gebäude der mittelalterlichen Stadt nicht erdbebensicher gebaut worden seien - aber gerade deshalb hätten die Forscher keine Entwarnung geben dürfen.

225 Seiten Anklageschrift haben Rossini und seine Kollegen zusammengetragen. Im Kern geht es darin um die Sitzung vom 31. März. Damals kam die Risiko-Kommission der Regierung zu einem außergewöhnlichen Treffen in L'Aquila zusammen. Die Bevölkerung war alarmiert, wegen der anhaltenden Erdstöße, aber auch wegen der Warnungen eines Technikers, der im nahe gelegenen Kernphysik-Labor arbeitete.

Er war davon überzeugt, mit Hilfe von Gasdetektoren Erdbeben vorhersagen zu können. Und seine privaten Messgeräte registrierten eine außergewöhnlich hohe Konzentration des Gases Radon. "Es gibt tatsächlich Phänomene, die vor Erdbeben stattfinden", sagt Geoforscher Bohnhoff, "aber keines ist ein zuverlässiger Indikator."

Das betonten auch die Koryphäen bei ihrer Sitzung in L'Aquila - darunter der Präsident des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkankunde und der erwähnte De Bernardini, damals Vize-Direktor der Abteilung für Kastrophenschutz. Ihr Fazit: Es sei unwahrscheinlich, dass ein schweres Erdbeben bevorsteht, aber man könne es nicht hundertprozentig ausschließen.

Wäre man mit dieser Botschaft an die Öffentlichkeit gegangen, wären die Forscher jetzt wohl nicht angeklagt. Doch die lokalen Behörden veranstalteten nach der Sitzung eine Pressekonferenz, bei der zwei Kommissionsmitglieder auftraten und es zu dem verhängnisvollen Satz kam, man dürfe jetzt ein Glas Rotwein trinken.

Ein schwieriger Prozess steht L'Aquila bevor. Er wird bei vielen Menschen, die Opfer zu beklagen haben, die Wunden wieder aufreißen. Bei Vicenzo Vittorini etwa und bei Giustino Parisse. Und Forscher werden sich fragen, ob es nicht doch besser ist, einmal häufiger zu warnen als einmal zu wenig.

Möglicherweise werden manche auch zu der Erkenntnis kommen, dass sie sich nicht nur auf rein wissenschaftliche Abschätzungen verlassen können, sondern auch menschengemachte Risiken wie schlechte Bausubstanz berücksichtigen müssen.

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