Sind Autoraser Mörder? Diese Frage stellt sich ab Dienstag wieder das Berliner Landgericht. Angeklagt sind zwei Männer, die bei einem illegalen Wettrennen auf dem Berliner Kurfürstendamm mit 170 Stundenkilometern erst mehrere rote Ampeln überfuhren und dann mit einem Jeep kollidierten. Dessen Fahrer war sofort tot. Das Verfahren gegen die beiden hat 2017 Rechtsgeschichte geschrieben, zum ersten Mal wurden in Deutschland Autoraser wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil im März 2018 auf, nun muss neu verhandelt werden, ob die Autoraser den Tod von Menschen billigend in Kauf nahmen. Die Schweizer Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry, die sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen Autorasen beschäftigt und Gutachterin im Berliner Prozess war, weiß, was Autoraser antreibt und wie sie wirkungsvoll abgeschreckt werden können.
SZ: Wie muss man sich den typischen Autoraser vorstellen?
Jacqueline Bächli-Biétry: Man muss zwischen Rasern und Schnellfahrern unterscheiden. Es gibt Leute, die fahren gerne schnell und überlegen genau, wo sie das möglichst risikolos tun können. Bei Rasern kommt die massive Selbstüberschätzung hinzu, das Gefühl, unverwundbar zu sein. Viele haben eine enge Beziehung zu ihren Autos. Das ist ein heikler Punkt, wenn das extrem Emotionale ins Spiel kommt und junge Männer anfangen, sich über ihr Motorfahrzeug zu definieren. Ich höre von Rasern auch schon mal die Bemerkung: Das Auto ist für mich wichtiger als die Freundin. Und einer sagte: Wenn er einmal stirbt, möchte er sich mit dem Auto begraben lassen.
In Deutschland wurden zuletzt die Gesetze verschärft, wer etwa an illegalen Straßenrennen teilnimmt, kann dafür mit Haft bestraft werden. Was halten Sie davon?
Grundsätzlich ist die Androhung von Strafe per se kein gutes Mittel, um Delikte zu verhindern. Gerade Raser begehen diese Delikte ja, weil sie überzeugt sind, die Situation im Griff zu haben. Die denken: Es passiert mir nichts, und ich werde ohnehin nicht erwischt. Strenge Gesetze haben nur Sinn, wenn man sie klar durchzieht, also auch Kontrollen durchführt, sonst haben sie sogar eine negative Wirkung, weil es die Täter aus psychologischer Sicht sogar noch bestätigt, wenn sie das Fehlverhalten zeigen können, aber nicht damit rechnen müssen, kontrolliert und bestraft zu werden.
Inzwischen kann die Polizei die Autos von Rasern beschlagnahmen. Das müsste die Leute doch abschrecken?
Allenfalls im Nachhinein. Ihr Delikt ist ja dadurch gekennzeichnet, dass sie sich eben keine Gedanken machen über Konsequenzen. Jemanden zu töten oder selbst verletzt zu werden - das spielt in ihrer Gedankenwelt keine Rolle.
Was hilft dann?
Häufig hilft Älterwerden. Bis zu einem gewissen Grad wächst sich das Problem aus, die Leute werden reifer, lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich über ein anderes Wertesystem als ein Kraftfahrzeug zu definieren. Gefährdet sind besonders diejenigen jungen Leute, die in anderen Lebensbereichen keine sichere Position haben, nicht familiär integriert sind, keine beruflichen Perspektiven oder alternative Hobbys haben. Die erliegen am ehesten der Verlockung, sich durch das Auto und das Messen mit anderen, wie es bei Wettrennen geschieht, soziale Akzeptanz zu holen. Da hilft dann oft nur eine Therapie.
Wo setzt die Therapie bei Rasern an?
In der Regel vertreten Raser den Standpunkt: Ich habe es nur einmal gemacht und hatte Pech, dass ich erwischt wurde. Wir sprechen da von einer Externalisierungs- und Bagatellisierungsneigung. Von dieser Sichtweise müssen sie weg und lernen Verantwortung zu übernehmen für ihr Tun. Und herausfinden, was führte denn dazu, dass ich mich so verhalten habe. Es gibt verschiedene Muster. Leute, die zu schnell fahren, weil sie beruflich im Stress sind und ihr schlechtes Zeitmanagement durch schnelles Fahren zu kompensieren versuchen. Die erlegen sich selbst großen Druck auf, können schlecht planen und sind dann erleichtert, wenn sie in der Therapie merken: Ich kann das ja steuern. Andere suchen den Kick, das ist eine Art Sucht, der Polizei davonzufahren, eine Kurve möglichst schnell zu kriegen, mit dem Feuer zu spielen. Die Leute müssen lernen, solche Herausforderungen in einem anderen Bereich zu suchen.
Die Schweiz, aus der Sie kommen, wird immer als Vorbild genannt, was die Bekämpfung von Rasern betrifft. Was machen die Schweizer anders?
Wir haben das Kaskadensystem: Wenn schwerwiegendere Delikte in enger Folge vorkommen, also drei Mal in zehn Jahren, wird ein Fahrer gesperrt für zwei Jahre, er muss sich einer verkehrspsychologischen und verkehrsmedizinischen Untersuchung unterziehen. Wir haben zudem ein sehr strenges System, was die Fahrausbildung betrifft. Wenn man beim Führerschein auf Probe zwei Mal verkehrsgefährdend auffällt, wird die Fahrerlaubnis annulliert und muss nach einem Jahr Sperrfrist komplett neu erworben werden. Auch gibt es an den Ampeln in der Schweiz häufig Geschwindigkeitsmessungen. Wer bei Rot eine Ampel überfährt, wird häufig auch wegen eines Geschwindigkeitsdelikts belangt und muss seine Fahrerlaubnis abgeben.
Viele haben kritisiert, der BGH habe ein falsches Signal gesetzt, als er das Urteil gegen die beiden Ku'damm-Raser aufgehoben hat. Wie sehen Sie das?
Ich bin keine Juristin, aber der Mordvorwurf befremdet mich. Nach meinem banalen juristischen Verständnis ist ein Mord der gezielte Wille, eine Person zu töten, und das kann ich nicht ausmachen. Aber gesellschaftlich ist es wichtig, dass eine breite Diskussion darüber stattfindet, dass Raser nicht mit läppischen Bewährungsstrafen lachend aus dem Gericht gehen, und die Eltern eines getöteten Kindes stehen daneben. Da muss klar sein: Wenn man so etwas macht, landet man im Gefängnis - und zwar für Jahre.