Süddeutsche Zeitung

Prozess um getöteten Austauschschüler:"Er hat um sein Leben gefleht"

Lesezeit: 4 min

Vor Gericht wird der Tathergang minutiös nachgezeichnet

"Nein, nein, nein, bitte" - das, sagt die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Jennifer Clark, seien die letzten Worte von Diren D. vor seinem Tod gewesen. "Er flehte um sein Leben". Dieser Satz ist bisher noch nie zitiert worden. Er stamme, sagt die Anklägerin, aus der Aussage, die Janelle P., die Lebensgefährtin des Angeklagten, in der Nacht unmittelbar nach den Schüssen vor der Polizei gemacht habe.

"Es war keine gerechtfertigte Anwendung von Gewalt", sagt die Staatsanwältin. Diren sei nicht in ein bewohntes Gebäude eingedrungen, er habe auch niemanden bedroht. Markus Kaarma sei wütend gewesen, weil schon zweimal Gegenstände aus seiner Garage gestohlen wurden. Minuziös zeichnet sie die Tatnacht, Direns letzte Sekunden, mit Bildern, Grafiken und Zitaten vor dem US-Gericht nach.

Die Staatsanwältin nimmt die Waffe aus einem Plastiksack und zeigt sie den Geschworenen. Sie zeigt, wie man nach jedem Schuss repetieren muss, um die nächste Patrone in den Lauf zu schieben. Als sie die Schrotflinte durchlädt, wird der metallische Klang nur durch das Schluchzen von Direns Mutter übertönt. Nachbarn hätten am nächsten Tag berichtet, was sie gehört hatten, sagt die Anklägerin: "Bumm, bumm, bumm. Pause. Bumm."

Der Fall Diren

Diren D., Sohn einer türkischstämmigen Familie aus Hamburg, wurde nur 17 Jahre alt. Er war Austauschschüler in Missoula, Montana, in den USA. In der Nacht zum 27. April war er mit einem Freund in dem Wohnviertel unterwegs gewesen, in dem sowohl seine Gasteltern als auch Markus Kaarma mit seiner Familie leben.

Nach Angaben des Freundes ging der 17-Jährige auf der Suche nach etwas zu trinken in die halb offenstehende Garage. Dort hatte Kaarma, bei dem bereits mehrfach eingebrochen worden war, Bewegungsmelder und eine Videokamera installiert. Als er den Eindringling bemerkte, nahm er seine Schrotflinte, schoss viermal in die Garage und traf Diren D. tödlich am Kopf.

Staatsanwalt geht von vorsätzlicher Tötung aus

Die Anklage lautet nun auf "deliberate homicide", vorsätzliche Tötung, darauf stehen mindestens zehn Jahre Haft. Es ist nach dem Gesetz in Montana das schwerste Tötungsdelikt und kann sogar mit der Todesstrafe geahndet werden. Die Staatsanwaltschaft glaubt, genügend Beweise dafür zu haben, dass Kaarma den deutschen Schüler vorsätzlich und nach Plan getötet hat, und sich dabei nicht auf das Notwehrrecht berufen kann.

"No, no, no, no, please! Mit diesen Worten bettelte er um sein Leben. Aber es wurde ausgelöscht", sagt Jennifer Clark über Diren D.s letzte Sekunden. Die Staatsanwältin zeigte den Geschworenen Bilder aus der Garage und Diren D.s Blut auf dem weißen Auto des Angeklagten. "Hier hat er Schutz gesucht. Vergebens."

"Sie haben nach zwei Einbrüchen einem Dieb eine Falle gestellt und es sogar vorher angekündigt", so Clark über das Ehepaar. Sie glaubt nicht, dass Markus Kaarma lediglich seine Familie schützen wollte. "Er sagte, er warte nur darauf, ein paar Jugendliche abzuknallen. Und er sagte es mit Wut, nicht Angst."

"Notwehr ist absurd", sagt die junge Staatsanwältin mit scharfer Stimme. "Sie haben über das versteckte Babyfon Diren 23 Sekunden lang beobachtet. Sie haben sogar Fotos gemacht. Sie hatten keine Angst, sie waren nicht in Panik." Dann habe die Frau gesagt: "Showtime!" Diren wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass er beobachtet wurde. Ein paar Sekunden später war er tot.

Anfang der Woche waren bereits die Geschworenen ausgewählt worden. Verteidiger und Staatsanwaltschaft haben mehr als ein Dutzend Zeugen angemeldet. Die wichtigsten Kronzeugen der Anklage sind drei Friseure. Sie wollen gehört haben, wie Kaarma Tage vor den Schüssen die Tat ankündigte. Er soll nach zwei Einbrüchen gesagt haben, er werde den Dieben für das nächste Mal eine Falle stellen und sie dann niederschießen. Diren hatte jedoch nichts mit den vorherigen Einbrüchen zu tun. Das bestätigten die beiden tatsächlichen Diebe vor Gericht. Die 17 und 18 Jahre alten Jungen sagten, dass sie Diren überhaupt nicht gekannt hätten. Sie waren im Herbst verurteilt worden.

Die Verteidigung stützt sich auf Notwehr, die in vielen amerikanischen Bundesstaaten weit großzügiger ausgelegt wird als in Deutschland. "Diese junge Familie hatte Angst", beteuert der Verteidiger. "Sie wurden zweimal Opfer von Einbrüchen, zweimal wurde ihr Privatestes von Fremden verletzt. Woher sollten sie wissen, dass der nächste Einbrecher nicht bewaffnet war?"

Verteidigung zeigt Familienfotos

Verteidiger Paul Ryan holt in seiner Eröffnungserklärung sehr weit aus. Er schildert das Glück der jungen Familie, die sich das idyllische Missoula gezielt ausgesucht hätten, um dort ihr gerade geborenes Kind grosszuziehen: "Eine stabile, gute Umgebung." Er zeigt ein Familienfoto: Markus Kaarma, mittelgroß, dunkel, koreanischer Abstammung, und seine grosse blonde Frau mit dem Baby auf dem Arm. Die Einbrüche hätten das Paar sehr geängstigt, sagt Ryan, zumal die Polizei fast nichts zur Aufklärung unternommen habe.

Eine schwangere Polizeibeamtin habe ihnen gesagt: "Ich würde die Kerle im Haus erschiessen." Sie hätten verdächtige Fahrzeuge beobachtet. Es gebe Beweise dafür, dass es einen ganzen Ring von Highschool-Kids gebe, die das sogenannte "Garage-hopping" betrieben. Die aggressiven Äußerungen Kaarmas im Friseursalon wolle er nicht bestreiten, sagt Ryan, aber davon gebe es viele verschiedene Versionen: "Jeder erzählt etwas anderes".

Als in jener Nacht die Bewegungsmelder anschlugen, sei Kaarma in einen Schockzustand geraten. "Er weiß: Da draußen ist jemand. Sein Herz schlägt bis zum Hals. Er nimmt das Gewehr." In der Garage sei es stockdunkel gewesen. Der Verteidiger zeigt einen großen weißen Karton mit einem pechschwarzen Viereck darauf: "Das ist es, was Kaarma sah. Er hörte eine schnelle Bewegung, ein Geräusch von Metall auf Metall, und er schoss, schoss, schoss."

Urteil noch vor Weihnachten

Ob die in Montana geltende "castle doctrine" (abgeleitet von dem Sprichwort "My home is my castle") in diesem Fall greift, ist zweifelhaft. Das Gesetz verlangt, dass der Angriff gegen ein Wohngebäude gerichtet ist, und dass die Anwendung von Gewalt nur zulässig ist, wenn sie nach vernünftiger Abwägung unerlässlich ist, um einen Angriff auf eine Person in diesem Wohngebäude abzuwehren.

Das Urteil der zwölf Geschworenen wird noch vor Weihnachten erwartet. Es muss einstimmig fallen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2252168
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/SZ/hh/dpa/AFP/afis/sosa
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.